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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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antwortet Oberstein. »Sie schläft
bei Freunden.« Er fragt sich, ob »elle dort chez des amis« nicht etwas zu
familiär klingt, doch jetzt ist es zu spät, gesagt ist gesagt.
    [586]  Die Dame gibt ihm einen Leinenbeutel mit touristischen und verkehrstechnischen
Informationen, Unterlagen zur Tagung und zu seinem Vortrag, der morgen für 15.45
Uhr angesetzt ist, einem Namensanstecker, Essenmarken, einer Schachtel Pralinen
und einem Notizbuch.
    »Das Willkommensdiner ist heute Abend um acht in der ›Brasserie Le Sud‹«,
sagt sie. »In der Tasche finden Sie auch einen kleinen
Stadtplan, auf dem angegeben ist, wie Sie dorthin kommen. Ich habe für alle Fälle
meine Mobilnummer dazugeschrieben. Und jetzt muss ich wieder zum Flughafen, den
nächsten Redner abholen.«
    Er wartet, bis sie weggefahren ist, dann checkt er ein.
    Das Zimmer ist klein. Das Bad hat keine Wanne, nur eine Dusche. Das Bett
ist knapp groß genug für zwei Personen. Man liegt eng aneinander.
    Gwendolyne schiebt die Vorhänge beiseite und schaut aus dem Fenster.
Oberstein setzt sich aufs Bett, holt die Unterlagen aus dem Leinenbeutel und überfliegt die Liste der Redner. Er hat all diese Informationen
auch schon per E-Mail bekommen, doch er war zu beschäftigt,
die E-Mails richtig zu lesen.
    »Verdammt!«, sagt er. »Nicht schon wieder!«
    »Was ist?«, fragt Gwendolyne.
    »Sven Durano!«
    [587]  8
    Gwenny hatte sich Namen und Telefonnummern von zwei billigen
Hotels und der Jugendherberge in Lyon aufgeschrieben. Sie fand, dass sie nicht automatisch
davon ausgehen durfte, in Roland Obersteins Zimmer zu schlafen.
    Jetzt schlendert sie durch die Stadt. Eigentlich hatte sie sich in der
Bibliothek noch ein Buch über Lyon ausleihen wollen, aber das hat sie nicht mehr
geschafft. Lang werden sie ohnedies nicht hierbleiben.
    Oberstein arbeitet. Zwischen sechs und halb sieben hat sie sich mit ihm
im Hotel verabredet.
    Nach ungefähr einer Stunde Spazieren geht sie in ein Bistro und bestellt
sich einen Tee.
    Lieke weiß nicht, dass sie hier ist. Das hier geht weiter als ihre Wette,
vielleicht ist es gar keine Wette mehr. Doch es ist schwierig zu sagen, wo die Wette
aufhört und das andere beginnt.
    Sie nimmt ihr Handy, um nachzusehen, ob sie schon wieder ins Hotel zurückmuss.
Sie hat drei SMS bekommen. Die Vibrationen hat sie
gar nicht gespürt.
    Ihrem Pferd geht es nicht gut.
    [588]  9
    Zusammen gehen sie zur ›Brasserie Le Sud‹. Der Portier hat
ihnen versichert, es sei leicht zu Fuß zu erreichen.
    »Ist dir nicht kalt in dem Kleid?«, fragt Roland.
    »Nein«, antwortet Gwendolyne. »Ich mag’s ein bisschen frisch um die Beine.«
    Im Restaurant sieht Oberstein sofort Sven Durano, er überragt alle anderen
Teilnehmer um fast einen Kopf.
    Die Tagung ist nicht besonders groß: nur ungefähr zwanzig Vortragende.
Ein paar Ökonomen und Historiker, ein paar Philosophen, ein Soziologe, ein Linguist.
Einige sind mit Begleitung gekommen. Was ein Linguist auf einer Konferenz über die
Wirtschaftspolitik von Vichy zu suchen hat, ist Oberstein
noch immer ein Rätsel.
    Das Essen ist schwer, und dauernd wird Wein nachgeschenkt. Dreimal muss
Oberstein der Kellnerin sagen: »Meine Assistentin ist Vegetarierin.« Beim dritten
Mal fügt er hinzu: »Sie isst auch keinen Fisch.«
    Der Professor, der die Konferenz organisiert hat, hält beim Hauptgericht
eine Rede, erst auf Französisch, dann auf Englisch. Die Übersetzung an sich ist
korrekt, aber er spricht mit so starkem Akzent, dass Oberstein dauernd an den Inspektor
aus den Pink-Panther -Filmen denken muss.
    Beim Dessert setzt sich Durano zu ihnen.
    Er schlägt Oberstein auf die Schulter. Er ist penetranter, als Roland
es aus Frankfurt in Erinnerung hat.
    »Hast du meinen Beitrag im Journal of Political Economy gelesen?«, fragt Durano.
    [589]  »Nein«, antwortet Oberstein. »Tut mir leid, nicht dazu gekommen! Hast
du Lea noch mal gesehen?«
    »Lea? Ach, Lea. Ja, ein Mal«, erwidert Durano.
»Und du?«
    »Auch kaum.« Kurz spürt er die Versuchung zu sagen: »Ihr Großvater wohnt
momentan bei meiner Mutter.« Doch das verkneift er sich.
    »Und wer bist du?«, wendet Durano sich plötzlich an Gwendolyne.
    Bevor sie etwas antworten kann, erklärt Oberstein: »Meine Assistentin.«
    Der Schweizer Ökonom wirkt beschwipst. Er schüttelt Gwendolyne lange
die Hand und lässt Oberstein völlig links liegen. »Und was ist dein Spezialgebiet?«,
fragt er sie. »Auf welchem Zweig unserer Wissenschaft turnst
du so herum?

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