Mit Haut und Haaren
sich
nicht. Er ist ein Dozent, der seine Arbeit mit dem erforderlichen Einsatz erledigt.
Nach der Vorlesung passt Lieke ihn auf dem Flur ab. »Meneer Oberstein«,
sagt sie.
»Jetzt nicht«, antwortet er. »Keine Zeit. Komm heute Nachmittag bei mir
vorbei.«
Er geht in sein Büro, wo Slachter ihn mitleidig ansieht. Seit dem Artikel
über ihn in der Universitätszeitschrift spürt er es auch
bei anderen Kollegen: herablassendes Mitleid.
Diese neunzehnjährigen Mädchen haben unrecht: Er ist nicht verletzlich.
Er schickt Gwendolyne eine SMS : »Interessieren
dich meine Vorlesungen nicht mehr?«
[653] Dann nimmt er sich ein paar Bücher und versucht, bis zur nächsten
Vorlesung in anderthalb Stunden konzentriert an seiner Studie zu arbeiten.
Gegen zwölf kommt ein Anruf von Violet. Er ignoriert ihn. Er ist beschäftigt. Als sie noch einmal anruft,
bellt er ins Handy: »Könnt ihr mich nicht ein Mal in Ruhe
lassen? Was ist denn schon wieder?«
»Hast du’s schon gelesen?«, fragt sie.
»Hab ich was gelesen? Ich sitze am Schreibtisch. Darf ich auch einmal
arbeiten?«
»Du stehst im Telegraaf. «
»Wo?«
»Im Telegraaf. Auf ihrer Internetseite. Schau’s
dir selbst an.«
34
Violet hatte einen Anruf von Mirjam aus Venray bekommen. »Dein
Freund steht in der Zeitung«, hatte sie gesagt. »In der Onlineausgabe.«
Violet hatte nicht verstanden, was sie meinte.
»Lies es selbst », hatte Mirjam aufgeregt erwidert. »Sitzt du am Computer?«
Nachdem Violet Roland angerufen hat, geht sie auf die Toilette. Sie setzt
sich in eine Kabine und schließt ab. Sie wartet auf Tränen, doch es geschieht nichts.
[654] 35
STUDENTIN KÜNDIGT AUF FACEBOOK VERZWEIFLUNGSTAT
AN , lautet die Schlagzeile der größten niederländischen Zeitung auf ihrer
Website.
Oberstein liest den Bericht flüchtig, ein
paar Stichworte genügen.
Der Artikel enthält einen Link zu YouTube.
Er klickt ihn an. Das Video ist schon vierzigtausendmal angesehen worden.
Gwendolyne erscheint auf dem Bildschirm. Die Bildqualität ist verschwommen.
Sie schaut direkt in die Kamera. Ein paar Sekunden lang bleibt es still.
Dann sagt sie: »Hallo, Meneer Oberstein. Sie dachten, Sie könnten gegen
mich gewinnen. Sie dachten, Sie wären stärker als ich. Ich werd dafür sorgen, dass
Sie mich nie mehr vergessen. Dass kein Tag vergeht, an dem Sie nicht an mich denken.«
Er klickt das Video weg.
»Ich fühle mich krank«, sagt er zu Slachter. »Ich muss mich abmelden.«
»Wer war das?«, fragt der Kollege. »Die Stimme
grad eben?«
Wie in Trance geht Oberstein zum Bahnhof.
An den Gleisen ist das Gedränge noch schlimmer als sonst, so kommt es
ihm vor.
Die Leute starren ihn an – oder bildet er sich das ein? Er fühlt sich
beobachtet.
[655] Die Leute wissen alles. Sie wissen mehr über ihn als er selbst.
36
Violet steht an der Tür. Roland sitzt auf seinem Bett. Er ist
noch im Mantel. Sie will sich nicht setzen, obwohl er sie schon ein paarmal dazu
aufgefordert hat.
Am Nachmittag hatte Mirjam sie noch einmal angerufen. »Hast du das Video
schon gesehen?«, hatte sie gefragt und, als Violet nicht geantwortet hatte, hinzugefügt:
»Ich finde, du siehst besser aus. So auf den ersten Blick.«
»Ich weiß nicht, wie man das nennt«, sagt Roland. »Freundschaft mit Extras? Freundschaftlicher
Sex? Friendship with benefits. Das scheint heutzutage
normal zu sein.«
»Eine Studentin«, sagt sie. » Deine Studentin!«
»Ja, manchmal nimmt Wissensvermittlung überraschende Formen an.«
Violet möchte heulen, doch es kommen noch immer keine Tränen.
»Darf ich den Arm um dich legen?«, fragt Oberstein.
»Fass mich nicht an! Bleib, wo du bist!«
Er rührt sich nicht.
Violet fühlt sich fiebrig.
»Und der Unfall mit dem Pferd, läuft das auch
unter Freundschaft mit Extras?«
»Unfälle mit Pferden passieren«, antwortet Oberstein. [656] »Ich verstehe
nichts von Pferden, aber so was kommt vor. Pferde werden wild, gehen durch. Genau
wie Menschen.«
Sie schaut ihn an. Noch nie war sie so lange mit jemandem zusammen wie
mit ihm.
»Das wolltest du doch?«, sagt sie. »Das Große Exil! Das Leben, die Welt,
nichts als eine einzige Wüste. War das nicht dein sehnlichster Wunsch?«
Sie fragt sich, warum er nicht antwortet, kein Gefühl zeigt.
»Ich weiß nicht, ob ich mich danach gesehnt
habe.«
Er rutscht auf seinem Bett herum.
»Vielleicht ist es einfacher«, sagt er schließlich, »wenn wir Meneer
Bär wieder dazunehmen. Willst du Meneer Bär
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