Mit Haut und Haaren
irritiert.
[645] Als die Sportnachrichten zu Ende sind, steht Gwendolyne auf und geht
in die Küche. Oberstein setzt sich mit der Familie an den Tisch.
Die Mutter meint: »Ich habe Ihre Blumen auf zwei Vasen verteilt. Es waren
so viele.«
Als Vorspeise hat Gwendolyne Brennnesselsuppe gekocht.
»Lecker«, sagt Oberstein.
Er sieht sich genötigt, das Tischgespräch in Gang zu halten, denn sonst
sagt niemand etwas.
Eine der beiden Blumenvasen steht auf dem Esstisch, wodurch er einige
Anwesende nicht richtig sieht.
»Und ihr wohnt noch alle zu Hause?«, fragt er, an keinen der Brüder im
Besonderen gerichtet.
»Sie wohnen noch alle zu Hause«, bestätigt der Vater. »Wir wollten schon
mal das Türschloss auswechseln lassen, wenn sie nicht da sind, aber das ist so ein
Aufwand.«
Die Mutter räumt die leeren Suppenteller zusammen und stellt sie auf
die Anrichte.
»Das Geschäft geht zurück«, sagt der Vater,
während er sein fast leeres Bierglas anstarrt. »In allen Segmenten. Bei den teuren
Gartenmöbeln und bei den billigen. Die teuren laufen noch am besten. Ich frage mich,
was ein Ökonom dazu sagt.«
Gwendolyne sitzt neben Oberstein. Unter dem Tisch legt sie die Hand auf
sein Bein. Erschrocken schiebt er die Hand weg.
»Die Konjunkturindikatoren weisen auf eine Erholung im Jahr 2010 hin,
aber Wirtschaft ist ein hochkompliziertes System«, sagt
Oberstein zögernd. »Mein eigenes [646] Fachwissen, soweit sich das überhaupt so sagen
lässt, erstreckt sich mehr auf die Wirtschaftsgeschichte.
Die Vergangenheit beschäftigt mich mehr als die Zukunft.«
Gwendolyne holt den Auflauf aus dem Backofen.
Auf sieben Teller wird eine undefinierbare
Masse verteilt. Jeder bekommt einen vorgesetzt.
»Guten Appetit«, sagt der Vater. Er nimmt als Erster einen Bissen, legt
sein Besteck jedoch sofort wieder hin.
»Tut mir leid, Gwenny«, sagt er. »Aber das kann man nicht essen. Das
kannst du niemandem vorsetzen, schon gar keinem Gast.«
Die ganze Familie sieht Gwendolyne an, nur Oberstein schaut auf seinen
Teller. Im Hintergrund ticken die Uhren.
Gwendolyne nimmt einen Bissen. »Du hast recht«, sagt sie.
»Möchten Sie probieren?«, fragt der Vater Oberstein.
»Nein danke«, antwortet der. »Ist schon in
Ordnung.«
»Stefan«, sagt der Vater zu einem seiner Söhne, »fährst du schnell zum
Chinesen? – Was möchten Sie?«
»Vom Chinesen?«, fragt Oberstein.
»Ja«, sagt der Vater. »Vom Chinesen.«
»Tja.« Oberstein weiß nicht, was er antworten soll. An der George Mason
hat er oft chinesisch gegessen, aber da hat Hegel immer
bestellt.
»Bami, Nasi, Fu Yong Hai vegetarisch, wenn Sie auch Vegetarier sein sollten«,
sagt der Vater.
»Nein, ich bin kein Vegetarier.«
»Bami, Nasi?«
»Bami Nasi ist prima.«
[647] »Bami oder Nasi?«, fragt der Vater, nun laut. Seine Stimme klingt
genervt.
»Bami«, sagt Oberstein schnell. »Das fände
ich herrlich.«
»Fahr nach Maassluis«, sagt der Vater zu seinem Sohn. Stefan, wie Oberstein
vermutet, der Älteste, steht auf und fährt los.
Der Vater wendet sich wieder an Roland. »In Naaldwijk gibt es auch einen
Chinesen, aber der ist teuer und nicht einmal gut. Der beste Chinese hier in der
Gegend ist der in Maassluis.«
»Aha«, erwidert der Gast.
»Es kann zwanzig Minuten dauern, aber dann können wir essen«, fährt der
Vater fort und steht auf, um allen Bier nachzuschenken. Oberstein bleibt bei Wasser,
die Mutter trinkt Tee.
Gwendolyne kippt ihren Auflauf in den Mülleimer.
Schweigend warten die Familie und Oberstein auf die Rückkehr des ältesten
Sohns. Nur die Mutter bricht kurz das Schweigen. »Leben Ihre Eltern noch?«, fragt
sie.
»Nur meine Mutter.«
»Die wird auch nicht mehr jung sein.«
»Über achtzig.«
Die Mutter nickt. »Wie Gwennys Opa.«
Als sie fertiggegessen haben, fragt Gwendolyne, ob Oberstein ihr Zimmer
sehen möchte.
Roland wirft einen Blick in Richtung der Eltern,
er weiß nicht, ob sich das schickt, doch Gwendolynes Eltern schauen ihn nicht an.
Er steht auf und folgt ihr nach oben.
Sie hat ein winziges Zimmer. Ein Bett, einen [648] Schreibtisch, ein kleines
Bücherregal. Auf dem Schreibtisch sieht er ein Foto von ihr und sich selbst, aufgenommen
im Scarlatti.
Selbst hier hört man das Ticken der Uhren im Wohnzimmer.
»Wissen deine Eltern eigentlich, dass wir …?«, flüstert
er.
»Dass wir was?«
»Dass wir gewisse Dinge zusammen tun?«
»Dinge. Was für Dinge?«
»Ich meine, wissen sie, dass wir zusammen ins
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