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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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sein?«
    »Nein!«, brüllt sie. »Meneer Bär ist tot
für dich!«
    »Darf ich dich wirklich nicht ein Mal umarmen?
Das würde ich so gerne tun.«
    Violet schaut ihn an, wie er im Mantel auf dem Bett sitzt. Ein Fremder,
und doch wieder nicht. Sie verachtet ihn, aber es gelingt ihr nicht völlig. Ihn
total zu verachten hieße sich selber verachten.
    »Was fandest du eigentlich an ihr? Außer dass sie jung war? Was hattest
du bei ihr, das du bei mir nicht hattest?«
    Er zieht seinen Mantel aus.
    »Ich weiß es nicht. Sie war seltsam. Unnahbar. Alles perlte an ihr ab.
Eine Spielerin.«
    »Also schön, umarm mich«, sagt Violet. »Was soll’s? Umarm mich schon.
Jetzt ist eh alles egal. Das macht auch nichts mehr aus.«
    [657]  37
    Sylvie hat Suppe gekocht. Thailändische Hühnersuppe. In ein
Restaurant wagte Roland sich nicht.
    »Warum sind die Leute so böse auf Papa?«, fragt Jonathan.
    »Weil deinen Papa«, antwortet Roland, »ein Dämon geritten hat, der Dämon
der Eifersucht … Und das war sein Fehler.«
    »Hör auf«, unterbricht ihn Sylvie. »Der Junge weiß nicht, was ein Dämon
ist. Sag ihm doch einfach die Wahrheit.«
    »Und die wäre?«, fragt Roland. »Was wäre deiner Meinung nach die Wahrheit?«
    »Die Leute sind böse auf Papa«, sagt sie, »weil er jemandem weh getan
hat – vielen Leuten weh getan hat.«
    »Vielen?«, sagt Roland. »Na klar, sag ihm doch gleich: Papa ist ein Unmensch.
Ein Feind der Menschlichkeit.«
    Jonathan schaut von Sylvie zu Roland und von Roland zurück zu Sylvie.
    Sylvie nimmt einen Löffel Suppe.
    »Aber er bleibt dein Papa«, erklärt sie, »was die Leute auch über ihn
sagen. Jonathan, merkst du dir das? Wenn du willst, dass dein Papa dein Papa bleibt,
dann bleibt er dein Papa.«
    Um acht Uhr stellen sie den Fernseher an.
    Roland hat es in die Abendnachrichten geschafft.
    Ein Stück aus Gwendolynes Video wird gezeigt. Ein altes Foto von Roland.
Man hat den Besitzer des Bauernhofs [658]  interviewt, auf dem Gwendolyne den Worten
der Fernsehreporter zufolge ihre gesamte Freizeit verbrachte.
    Der Bauer ist ein alter Mann. Er schaut direkt in die Kamera. »Und ich
hab ihr so oft gesagt: Reit nie ohne Helm. Es ist mein
Grundstück. Ich fühle mich verantwortlich. Das Pferd war auch nicht mehr zu retten.
Ich musste den Abdecker rufen.«
    Dann fährt die Nachrichtensprecherin trocken fort: »Das Mädchen wurde
mit ernsten Lähmungserscheinungen in ein Krankenhaus in der Nähe von Delft eingeliefert. Wie ein Sprecher der Universität Leiden mitteilte,
erwägt die Hochschule rechtliche Schritte gegen den Dozenten.«
    38
    Am Dienstagmorgen bringt Roland seinen Sohn in die Schule.
An einem Zeitungskiosk bleibt sein Blick an einer Überschrift
des Telegraaf hängen. PROFESSOR
MISSBRAUCHT WOCHENLANG STUDENTIN steht in fetten Buchstaben auf der Titelseite.
    Daneben ein Foto von ihm, im Pferdestall mit der Peitsche. Das Foto ist
unscharf, aber er ist es. Kein Zweifel. Mühelos wird jeder Roland erkennen.
    Über dem Foto noch ein anderer Text, in kleineren Buchstaben: DAS MACHT DIE ELITE MIT UNSEREN KINDERN.
    Hatten die Nachrichten gestern noch von »ernsten Lähmungserscheinungen«
gesprochen, kann Gwendolyne jetzt [659]  laut Nachforschungen der Zeitung nur noch den
Kopf bewegen. Am ganzen Körper gelähmt, nach einem Reitunfall, der vielleicht keiner
war.
    Wie sagte ein Experte doch gestern im Fernsehen? »Man kann sich so auf
ein Pferd setzen, dass man einfach herunterfallen muss. «
    Oberstein zieht Jonathan weg. Er ist kein Professor, er ist Hochschuldozent.
Nicht mal die Fakten können sie anständig recherchieren.
    In der Schule findet er inzwischen mühelos
Jonathans Klasse.
    Als er hereinkommt, verstummen Kinder, Eltern und Lehrerin. Selbst den
üblichen Brüllaffen bleibt ihr Schreien im Hals stecken.
Wie auf Kommando drehen sich alle zu ihm und seinem Sohn um.
    Völliges Schweigen. Alle starren ihn an.
    Er bringt Jonathan an seinen Tisch.
    »Heute Nachmittag holt Mama dich ab«, sagt er, »und in der Mittagspause
bleibst du in der Schule.«
    Wie laut seine Stimme in dieser Totenstille gellt. Grässlich.
    Der Mann, der nicht schwul ist, aber so wirkt. Der Mann mit den witzigen SMS . Der verletzliche Mann, nach Meinung neunzehnjähriger
Mädchen.
    Er nimmt Jonathans Rucksack und hilft dem
Kind aus der Jacke. Er gibt seinem Sohn einen Kuss, und dann noch einen und noch
einen dritten, alle starren ihn an. Dann hängt er Jonathans Sachen im Flur auf.
    Wie Jonas im Walfisch, so

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