Mit Haut und Haaren
die Mutter: »Was
möchten Sie trinken?«
Der Vater sagt: »Wir trinken Bier.«
Vier Gläser stehen auf dem Tisch vor ihm und Gwendolynes Brüdern.
[642] »Wir haben auch Wein«, sagt die Mutter nach einer kurzen Pause. »Oder
einen Kaffee? Oder Tee?«
»Zuerst hätte ich gern ein Glas Wasser«, sagt Oberstein. »Wenn’s keine
Umstände macht.«
Wieder hört er das Ticken der Uhren.
Die Mutter geht aus dem Zimmer.
Nach einiger Zeit sagt der Vater: »Sie geben also Ökonomie?«
»Ja. Ich bin Ökonom.«
»Stellt Gwenny sich einigermaßen geschickt an?«
Ist er darum gekommen? Um Fragen nach den Studienfortschritten ihrer
Tochter zu beantworten?
»Ja, Gwendolyne ist sehr intelligent«, sagt Oberstein, während die Mutter
ihm sein Glas Wasser in die Hand drückt.
Eine Wette ist keine Affäre. So viel ist sicher.
Vielleicht sollte er heute Abend einfach nur den Dozenten geben.
»Hier ist Ihr Untersetzer«, sagt die Mutter.
Er nimmt ihn entgegen, legt ihn auf den Couchtisch und stellt sein Glas
Wasser darauf.
Die Mutter geht zurück in die Küche. Sie nimmt Obersteins Blumen aus
dem Papier.
Der Blick des Vaters wandert Richtung Bildschirm und dann wieder zu Oberstein.
»Da stand der Kaninchenstall«, sagt er.
Er zeigt auf den freien Platz neben dem Fernseher.
Oberstein betrachtet den leeren Fleck.
»Vor einem halben Jahr ist Gwennys Kaninchen gestorben«, fährt der Vater
fort. »Ich hatte von den Karnickeln sowieso schon die Nase voll. Mit den Kaninchen
ist Schluss, hab ich gesagt. Und jetzt ist ihr Pferd auch noch tot.«
[643] Oberstein nickt. »Ja, das Pferd ist tot«, sagt er.
Die drei Brüder, die Gwendolyne nicht ähnlich sehen – wie sich auch nicht
untereinander –, sitzen schweigend auf dem Sofa. Hin und wieder werfen sie Oberstein
einen kurzen Blick zu, wie einem Kunstwerk im Museum, mit dem man nicht viel anfangen
kann.
»Tiere sterben«, sagt der Vater und nimmt einen großen Schluck Bier.
Wieder nickt Oberstein.
»Menschen auch«, fügt der Vater hinzu.
»Das stimmt«, gibt Roland ihm recht.
»Sie duscht noch«, sagt der Vater. »Sie wollte sich frisch machen, bevor
Sie kommen. Wir warten noch auf die Sportschau. Wenn die Fußballergebnisse durch
sind, essen wir, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Erst Fußball. Dann essen. So läuft das sonntags bei uns.«
»Mir ist alles recht«, antwortet Oberstein.
Er schlägt die Beine übereinander.
»Wie ist das nun mit der Krise?«, fragt der Vater und sieht Oberstein
etwas interessierter an. »Wie lang wird die noch dauern?«
»Die Krise … Ökonomen sollten sich nicht an Zukunftsprognosen wagen«, sagt Oberstein. »Wenn sie gut darin wären,
wären sie alle steinreich.«
Es sollte ein Witz sein. Doch niemand lacht. Die Jungs und ihr Vater
blicken noch trauriger drein als zuvor.
»Wir haben es letzten Sommer schon gemerkt«, sagt der Vater. »Da wollten
die Leute auf einmal keine Gartenmöbel mehr. Lieber haben sie sich auf ihr altes
Gerümpel aus der Garage gesetzt.«
[644] Aus seinem Ton spricht ein gewisses Verständnis für Leute, die sich
auf ihr altes Gerümpel setzen.
Oberstein konzentriert sich auf das Ticken der Uhren und leert sein Glas
Wasser.
Dann erscheint Gwendolyne. Ihr Haar ist noch nass. Sie trägt ein braves
Kleid. Dazu Turnschuhe. Weil er nicht weiß, was sie ihren Eltern und ihren Brüdern
erzählt hat, gibt er ihr die Hand.
Er hätte sie fragen müssen, verflucht er sich
selbst, ihr eine SMS schicken: »Was weiß deine Familie
von mir?«
Solch halblegale Beziehungen ist er nicht gewohnt.
»Hallo, Gwendolyne«, sagt er.
»Hallo«, antwortet sie.
»Gwenny hat gekocht«, sagt der Vater. »Wir werden ja sehen, ob man’s
runterkriegt.«
Die Brüder lachen. Unterschiedlich laut.
Plötzlich ruft einer von ihnen: »Die Sportschau!«
Der Fernseher wird laut gestellt.
Alle schauen auf den Bildschirm, auch Gwendolyne, mit echtem oder gespieltem
Interesse. Hin und wieder wirft Oberstein ihr einen Blick
zu. Vielleicht schaut sie nicht richtig hin, vielleicht tut sie nur so und sieht
ganz andere Dinge. Ihr Kaninchen zum Beispiel.
Auch während der Sportschau wird kein Wort geredet. Zum Glück ist der
Fernseher so laut, dass man das Ticken der Uhren nicht mehr hört. Nach gut einer
Viertelstunde Fußballergebnissen sagt der Vater: »Twente spielt am besten, aber
Meister werden sie nicht.«
Oberstein meint, die Bemerkung höflichkeitshalber bestätigen zu müssen,
was den Vater jedoch merklich
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