Mit Haut und Haaren
ihn wieder besuchen. Er hat nur eine kleine Wohnung. Da ist kein Platz für dich.
Und wo er wohnt, sind die Schulen sehr teuer. Du kannst nicht zu Papa. Später vielleicht,
wenn du groß bist. Willst du ihn anrufen? Willst du ihn sprechen?«
Jonathan nickt.
»Versprichst du, dass du dich anziehst, wenn du mit ihm gesprochen hast?
Nicht mehr querschießt? Mir das Leben nicht mehr so schwermachst? Dass wir zusammenarbeiten?«
Jonathan nickt noch einmal.
»Ich will, dass du es sagst«, beharrt seine Mutter, »nicht bloß ein bisschen
mit dem Kopf nickst! Ich will, dass du mich ansiehst und es mir versprichst. Dass
du zuhören lernst.«
»Ich versprech’s«, sagt Jonathan. Er sieht sie kurz an, dann geht sein
Blick wieder suchend durchs Zimmer.
Sie hofft, dass sein Vater abnimmt, dass er
sein Handy hört und nicht wie so oft eine SMS mit dem Text schreibt: »Hatte keine Zeit. Rufe zurück.«
Ihre Eltern haben sie Sylvie genannt. Sie waren [84] frankophil, aber haben
immer geleugnet, dass das der Grund ihrer Namensgebung war. Noch mit fünfzehn hat
Sylvie sich manchmal gefragt, warum sie so hieß, als sei ihr Name noch immer nicht
mit ihr verwachsen gewesen. Als gähne ein Abgrund zwischen ihr und ihrem Namen.
»Hallo«, sagt Jonathans Vater.
»Wo bist du?«
»Im Taxi. Unterwegs zum Flughafen. Ist es dringend?«
»Dein Sohn will dich sprechen.«
»Ich fragte: Ist es dringend?«
»Er will sich nicht anziehen, solange er nicht mit dir gesprochen hat.
Das nenne ich dringend.«
»Wie spät ist es? Warum ist er noch nicht
in der Schule?«
»Sie machen einen Ausflug, auf einen Abenteuerspielplatz.
Roland, so geht das nicht weiter.«
»Was geht so nicht weiter?«
Immer noch sitzt sie auf dem Boden, neben ihrem Sohn, doch der scheint
sich für das Gespräch nicht zu interessieren. Er spielt mit einem Piratenboot von
Playmobil, das er zum Geburtstag bekommen hat.
»Er ist immer so bockig. Ich kann nicht mehr.«
»Das ist sein Alter.«
»Hast du neuerdings Kinderpädagogik studiert?« Mit der Rechten streichelt
sie Jonathan übers Haar. Offenbar ist er zur Ruhe gekommen.
Als hätte er vergessen, dass er sie eben noch blöd fand und nie mehr mit ihr spielen
wollte.
»Hab ich irgendwo gelesen. In einem bestimmten Alter sind Kinder immer
bockig, danach wird es besser.«
»Er will mit dir sprechen«, sagt sie. »Erzähl ihm, was du gelesen hast.
Dass es bald besser wird.«
[85] Sie wartet nicht auf Antwort und gibt das Handy direkt an Jonathan
weiter.
»Papa«, sagt Jonathan.
Der Junge hält das Handy fest in der Hand. Er konnte kaum sprechen, da
musste er schon telefonieren. Er sitzt neben seiner Mutter, das Hemd schief geknöpft, in Unterhose und Socken.
»Wo bist du?«, fragt Jonathan.
Für einen Moment ist es still.
»Was machst du gerade?«, fragt er.
Noch längere Pause. Sylvie betrachtet das Spielzeug auf dem Boden.
»Ist Violet auch da?«, fragt Jonathan.
Auf dem Boden liegen die Reste eines Memory-Spiels, das sie am Vorabend
nach dem Essen gespielt haben. Sie starrt ihr Kind an. »Wo ist sie denn?«, will
ihr Sohn wissen.
Sylvie streichelt ihm über den Kopf.
»Hier«, sagt Jonathan kurz darauf. »Ich bin hier.«
Sie schaut auf die Uhr.
»Mit Mama«, sagt er.
Sie fängt an, ein wenig Spielzeug zusammenzuräumen.
»Ich bin böse auf Mama«, sagt er.
Auf dem Gesicht ihres Sohns ist keine Erregung zu erkennen. Er schaut
nur etwas verträumt. Als hätte er etwas sehr Schönes gesagt, als sei es ein spannendes
Abenteuer, auf Mama böse zu sein.
»Ja, tschüs«, sagt er plötzlich.
Er gibt ihr das Handy zurück. »Jetzt kannst du mit ihm reden«, sagt er.
Doch die Verbindung ist schon unterbrochen.
[86] Hastig und schweigend zieht sie ihn an. Er sträubt sich nicht mehr.
In der Küche packt sie eine geschälte Birne in einen Frühstücksbeutel
und diesen in einen kleinen Rucksack. Auf dem Rucksack ist ein Kaninchen zu sehen.
Nicht gemalt, sondern als Patchwork aus Stoff.
Am Boden des Rucksacks findet sie einen Beutel
mit Weintrauben.
»Von wann sind die Trauben?«, fragt sie.
Jonathan zuckt mit den Schultern.
Sie hält die Tüte hoch.
»Magst du keine Trauben mehr?«, fragt sie. »Die mochtest du doch immer
so gern.«
»Ich hatte keine Zeit zum Essen«, sagt er. Es klingt, als schäme er sich
dafür, doch vielleicht kommt ihr das nur so vor.
Sie riecht an der Tüte.
»Ich kaufe die Weintrauben extra für dich, weil sie dir schmecken und
damit du sie in der Schule isst.«
Die
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