Mit Haut und Haaren
meine Beziehung hineinziehen. Das wäre nicht fair, du hast damit nichts zu tun.
Weißt du, was darin fehlt? Liebe. Aber dafür kannst du nichts. Damit will ich dir
nicht die Ohren volljammern. Beachtung und Fürsorge sind noch keine Liebe. ’tschuldigung,
dass ich mich gehenlasse. Vergiss es. Ich hab nichts gesagt. Es bringt niemanden
um, nein, aber das ist noch kein Grund weiterzumachen.«
Violet lacht, weil ihr jetzt so richtig aufgeht, was es heißt, mit allem
weitermachen zu müssen, was einen nicht umbringt – als wäre das ein Grund.
Sie drückt Wytse weg, geht zur Damentoilette, klappt den WC -Deckel herunter und setzt sich darauf. Sie lehnt ihren
Kopf an die Fliesen und schließt die Augen.
Vielleicht war es wirklich etwas zu hart, was sie da eben gesagt hat.
Sie hat ihn auf einer Party kennengelernt, er hatte gemeint: »Ich geh
jetzt nach Hause.«
Sie hatte ihn angesehen und gefragt: »Jetzt
schon?«
So fangen Geschichten an.
[81] Einen Moment lang würde sie ihn am liebsten zurückrufen und fragen:
»Bist du mit mir gegangen, weil das dich nicht umbringt?«
Ihre Augen sind immer noch zu. Das macht sie öfter:
ein kleines Nickerchen auf der Toilette.
7
»Jetzt beeil dich doch bitte«, sagt Jonathans Mutter. »Oder
willst du den Bus verpassen? Willst du nicht mit auf den Ausflug? Willst du zu Hause bleiben?«
Jonathan schaut sie an. Er trägt nur Socken und Unterhose. Die Unterhose
hat er sich selbst aussuchen dürfen. Sie hat ein Fledermausmuster. Er ist gerade
dabei, sein viel zu teures Hemd zuzuknöpfen, es geht quälend langsam. Er hat es
von seinem Vater bekommen. Ein großzügiger Vater, das muss man ihm lassen.
»Soll ich’s für dich machen?«, fragt seine Mutter.
»Nein!«, ruft er. Er dreht sich um und stapft ans andere Ende des Zimmers. »Du bist blöd!«, ruft er von dort aus, Sylvie den Rücken zugekehrt. »Ich werd
nie mehr mit dir spielen!«
Jonathan ist fast fünf. Seine Mutter hätte lieber einen anderen Namen
für ihn gewollt, etwas Exotisches, aber sein Vater hatte gemeint, mit so einem Namen
wäre er für den Rest seines Lebens gezeichnet.
Sie bewohnen zwei Stockwerke eines renovierten [82] Lagerhauses auf Prinseneiland
in Amsterdam. Ein Teil des Mobiliars ist eine Sonderanfertigung von einem Schreiner,
den Sylvie bei sich in der Praxis behandelt.
»Zieh dich an, Jonathan!«, ruft sie. »Du trödelst
schon den ganzen Morgen herum, du hast nichts gegessen und fast nichts getrunken,
nur getrödelt.«
»Du bist blöd!«, ruft Jonathan wieder.
»Jetzt hör mir mal zu«, sagt Sylvie. Sie packt ihr Kind bei den Schultern.
»So redest du nicht mit mir. Ich bin deine Mutter. Ich bin hier der Chef. Weißt
du, wie spät es ist? Vor eurer Schule wartet ein Bus, ihr macht einen Ausflug, und ich will nicht, dass der Bus warten muss, weil du
zu spät kommst. Das ist nicht schön für die anderen Kinder, nicht für die Eltern
und auch nicht für die Lehrerin. Hörst du, Jonathan? Immer und überall kommen wir
zu spät. Zu spät zum Geigenunterricht, zu spät zum Kung-Fu, zu spät zur Schule,
immer zu spät, weil du trödelst. Weil du dich nicht anziehst, weil du dich querstellst,
ich halt das nicht mehr aus. Wir hatten verabredet, dass wir nicht mehr zu spät
kommen.«
Sylvie will nicht schreien. Sie hatte sich vorgenommen, Jonathan niemals
anzubrüllen, und jetzt merkt sie, dass sie doch wieder die Kontrolle verliert.
Sylvie Arouch ist mittelgroß, hat grüne Augen und einen durchdringenden
Blick. Seit vier Monaten braucht sie eine Lesebrille.
Jonathan weiß nicht, wie spät es ist, es scheint ihn auch nicht zu interessieren.
Er wiederholt, was er gerade gesagt hat: »Du bist blöd.« Doch jetzt nicht mehr trotzig,
eher müde, wie eine alte, selbstverständliche Wahrheit.
»Ich halt das nicht aus, Jonathan«, sagt seine Mutter. Sie [83] setzt sich
auf den Boden. »Wenn das nicht aufhört, können wir nicht mehr unter einem Dach leben.
Dann musst du irgendwo anders hin. So geht das nicht weiter. Wo willst du wohnen?
Soll ich den Makler anrufen?«
Sie weiß, dass das nicht ihr Ernst ist. Doch Erziehung besteht zu einem
Großteil aus rhetorischen Fragen.
»Ich will zu Papa«, sagt Jonathan.
»Papa ist im Ausland«, erwidert Sylvie ganz ruhig, doch innerlich tut
es jedes Mal weh, wenn er das sagt. Zum Glück sagt er es nicht oft. »Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Auf einer Konferenz,
irgendwo. Über die europäische Identität und noch irgendwas. In den Ferien kannst
du
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