Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
Vom Netzwerk:
sie
dazu drängten. Ihr zukünftiger Mann, die [93]  Eltern, die
Schwiegereltern, auch ein paar Freundinnen. »Nun mach’s doch«, sagten sie. »Worauf
wartest du noch?«
    Und auch: »Denkst du, dass noch was Besseres
kommt?«
    Sie findet den Pass in der Gesäßtasche ihrer
Jeans.
    Sie schaut Roland an, der auf sie zukommt. Ihm ist warm. Er hat Schweißperlen
auf der Stirn.
    »War das eben dein Sohn, mit dem du im Taxi telefoniert hast? – Ich hab
meinen Pass wiedergefunden. Du hast mich nervös gemacht.«
    »Ich?«
    »Du hast mich so verärgert angesehen.«
    »So schau ich nun mal. Aber es kann nicht schaden, ein bisschen organisiert
zu sein, wenn man verreist. – Ja, das war mein Sohn.«
    »Und wie heißt er?«
    »Jonathan.«
    »Schöner Name.«
    »Danke.«
    »Aber die Mutter ist nicht die Freundin mit den Liebesaventüren?«
    »Die Mutter ist meine Exfrau.«
    Er scheint sein Gegenüber gern mit Fakten einzudecken, zumindest, wenn
man ihn danach fragt. Mehr als Fakteninformationen will er vorläufig nicht preisgeben. Aber er ist interessiert. Zumindest könnte
er es sein. Er kann gut zuhören.
    »Ich hab darüber nachgedacht, ihn mir wegmachen
zu lassen.«
    »Wen?«
    »Gabe. Das schockiert dich vielleicht.«
    [94]  »Nein, überhaupt nicht.«
    »Oder bist du das gewöhnt?«
    Sie schaut ihn lächelnd an, doch er starrt geradeaus, ans vordere Ende
der Schlange, wo der Beamte die Pässe kontrolliert.
    »Was?«
    »Bekenntnisse.«
    »Ich bin Menschen gewöhnt. Ich bin Dozent an der Uni, da zieht – besonders
im ersten Jahr – ein ziemlich repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung an einem
vorbei. – Warum wolltest du ihn dir wegmachen lassen?«
    »Ich hatte mich in einen anderen Mann verliebt. Ich war im dritten Monat,
und auf einmal verliebte ich mich. Ich dachte: Das ist kein gutes Zeichen.«
    »Ein Zeichen auf jeden Fall. Und dann?«
    »Nichts. Ich blieb monogam, bin es noch, sehr lang gewesen, eigentlich
immer, mein Sohn kam zur Welt, und versteh mich nicht falsch: Ich bin verrückt nach
ihm, und mein Mann noch mehr. Nicht, dass ich immer noch denke: Hätte ich ihn damals
nur wegmachen lassen. Überhaupt nicht.«
    Sie betrachtet ihre Fingernägel.
    »Lackierst du die selbst?«, fragt er und zeigt auf ihre Hände.
    »Meine Fingernägel? Meistens schon. Wenn ich auf eine Hochzeit muss oder
mit meinem Mann auf einen wichtigen Empfang, geh ich zur Maniküre. – Bereust du
die Scheidung?«
    »Gefühle, die einem nichts bringen, sind Zeitverschwendung.« Roland zögert
einen Moment. »Aber wenn du’s genau wissen willst: Nein. Jetzt habe ich mehr Zeit
zum [95]  Arbeiten, für meine Forschung. Es war ein guter Entschluss. Ich sehe meinen
Sohn selten, aber dank der modernen Technik ist das kein Problem: Wir skypen, wir
ichatten, wir telefonieren …«
    Sie glaubt ihm nicht. Vielleicht ist es das, was sie von ihm will: Sie
will seine Maske durchdringen, ihm die Unerschütterlichkeit nehmen.
    »Du hast deine Gefühle also immer unter Kontrolle? Dann bist du eine
Ausnahme.«
    »Nicht immer. Eben zum Beispiel: Da habe ich eine SMS gesucht, die meine Freundin mir an dem Abend geschickt
hat, als sie bei dem anderen war. Plötzlich kam mir die SMS unheimlich wichtig vor. Natürlich ist das irrational, im Grunde hat die SMS ja nichts zu bedeuten. Aber ich bin kein Übermensch,
wenn du das meinst. Alles andere als das.«
    Wieder lacht er. Und wieder findet sie es
nicht witzig. An diesem Lachen über die eigenen Witze erkennt sie seine Verwundbarkeit.
Es zeigt, dass er mehr sein will als immer nur unnahbar.
    »Was hat sie dir geschrieben?«
    »Schlaf gut, Liebling, xxx.«
    »Kleine Details haben große Bedeutung.«
    »Nicht alle Details.«
    »Ich bin so müde«, sagt sie. »Am liebsten würde ich meinen Kopf auf deine
Schulter legen. – Wie klingt die SMS auf Niederländisch?«
    Er liest ihr die Nachricht im Original vor. Aber er bietet ihr nicht
an, den Kopf auf seine Schulter zu legen. Er berührt nur kurz ihren Rücken, als
wolle er ein Insekt verscheuchen. Mehr nicht. Als wäre er blind für die Tatsache, [96]  dass die Welt aus Wesen besteht, die gerettet werden müssen.
    »Niederländisch klingt ein bisschen wie Deutsch«, sagt Lea verträumt.
    »Es ist eine Art
Deutsch. Nur anders. Plattdeutsch.«
    »Ich konnte ein bisschen verstehen von dem, was du zu deinem Sohn gesagt
hast. Eben im Taxi. Warum ist er bockig?«
    »Warum?« Roland nimmt seine Tasche von der rechten auf die linke Schulter.
»Braucht man

Weitere Kostenlose Bücher