Mit Haut und Haaren
Tüte mit den vergammelten Weintrauben baumelt an ihrer Hand.
Ihre Augen werden feucht. Sie hasst es, wenn ihr das in solchen Momenten
passiert, aber sie kann es nicht ändern, sie hat sich nicht mehr im Griff. Sie denkt an die Trauben, den Rucksack, die Lehrerin, die
anderen Eltern, ihr Kind. An den Sandkasten, sie sieht sich daneben, auf einer Bank,
in ihrer grünen Jacke, und einen Moment glaubt sie, verrückt zu werden. Nicht sehr,
nicht völlig verrückt, nur ein ganz kleines bisschen, für die Außenwelt kaum bemerkbar.
[87] Immer noch baumelt die Tüte mit den vergammelten Trauben an ihrer
Hand.
»Warum isst du dein Obst nicht?«, fragt sie.
Jonathan kommt näher. Er streichelt seiner Mutter über den Oberschenkel.
»Entschuldigung, Mama«, sagt er.
Sie hebt ihn hoch. »Kurz mal drücken«, sagt sie, die Trauben immer noch
in der Hand. Sie hält ihren Sohn auf dem Arm und drückt ihn ganz fest.
»Nicht in die Brust kneifen!«, ruft sie. »Wie
oft hab ich dir das schon gesagt? Du darfst mir nicht
in die Brust kneifen, das darfst du bei niemandem, auch nicht bei mir.«
Sie setzt ihn wieder auf dem Boden ab.
Vielleicht sollte sie einmal ausführlicher mit jemandem darüber reden.
Dass er sich so für ihre Brüste interessiert. Einmal hat sie eine andere Mutter
gefragt: »Fummelt dein Sohn auch immer an deinen Brüsten herum?« Die sah sie erstaunt
an. »Nein, nur mein Mann«, hatte sie geantwortet, »und auch der eigentlich kaum
noch.«
Einen Moment lang bleibt sie unschlüssig stehen, dann wirft sie den Beutel in den Mülleimer.
Sie hilft ihm, den Rucksack überzuziehen.
»Isst du dann aber die Birne?«, fragt sie. »Iss die mal, die ist so lecker.«
Einen Augenblick später rennen sie die Straße entlang. Sie zieht ihren
Sohn wie ein Esel den Karren. »Du tust mir weh!«, ruft er.
Doch sie hat es eilig. »Ich tu dir nicht weh«, sagt sie. »Heute Abend
essen wir bei Lysander. Das wird nett, meinst du nicht?« Sie geht noch etwas schneller.
»Schau, da auf dem Fahrrad, Martijn und seine Mutter!«, ruft sie keuchend. »Zum Glück sind nicht nur wir zu spät.«
[88] An einer Ampel bleibt sie stehen. Sie hält ihren Sohn fest an der
Hand. »Es ist nicht schön, dass wir immer zu spät kommen, Schatz«, sagt sie. »Gar
nicht schön.«
8
Lufthansaflug
402 von Frankfurt am Main nach New York hat keine Verspätung. Ein junger Mann am
Abfertigungsschalter sagt zu Roland: »Ihr Gepäck hat fünf Kilo Übergewicht.«
»Ich bin Frequent Traveller«, antwortet der. Er zeigt ihm sein Flugticket.
»Das gibt Ihnen nicht das Recht, fünf Kilo zu viel mitzunehmen.« Der
Mann wendet sich an Lea: »Sie reisen zusammen?«
»Ja«, antwortet sie. Es klingt selbstverständlich, als seien sie seit
Jahren ein festes Team.
»Dann legen Sie Ihr Gepäck bitte dazu.«
Sie legt ihren Rucksack auf die Waage.
»Für dieses Mal lass ich es durchgehen«, sagt der junge Mann. »Aber nächstes
Mal gleichmäßiger packen.«
Er gibt Lea und Roland die Boardingkarten. Sie sitzen nebeneinander.
»Was hast du nur alles im Koffer?«, fragt sie. »Für die paar Tage?«
»Vor allem Bücher. Ich dachte, ich hätte vielleicht Zeit, sie zu lesen.«
[89] »So viele?«
»Ein paar hab ich noch gekauft und auch noch
ein paar geschenkt bekommen. Nächstes Mal gleichmäßiger packen. Was ist das für ein Ton?«
Sie antwortet nicht. Sie denkt an ihren Vortrag auf der Konferenz, sie
spricht nicht gern vor großem Publikum. Roland hat kaum etwas zu dem Vortrag gesagt,
ja, interessant sei es gewesen, aber das kann alles bedeuten. »Es war interessant«
– oft soll das nichts anderes heißen als: »Es war stinklangweilig,
nach fünf Minuten bin ich eingeschlafen.«
Nachdem sie den Sicherheitscheck hinter sich haben, gehen sie Richtung
Passkontrolle.
»Du hast mich nicht erinnert«, sagt sie.
»Woran?«
»Du solltest mich doch dran erinnern, dass ich noch ein Geschenk kaufen
muss.«
»Oh ja, Entschuldigung«, sagt Roland. »Für deine Tochter hast du ein
Buch über den Tod gekauft, vielleicht könntest du deinem
Sohn was Normales mitbringen. Etwas, das nichts mit dem Tod zu tun hat. Ein Spielzeugauto
vielleicht?«
»Es ist ein Buch über eine Ente und den Tod.
Hat es dir nicht gefallen? Du darfst dich da, bei › EU -Bürger‹,
anstellen.«
»Ich bleibe hier«, sagt er. »Die Schlangen sind fast gleich lang. Es
macht keinen Unterschied. Ich bleibe bei dir.«
Es klingt wie ein Spaß, und Lea muss lächeln.
»Hat es dir nicht
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