Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
Vom Netzwerk:
gefallen?«, fragt sie nochmals.
    »Was?«
    »Das Buch über die Ente und den Tod.« Was soll sie [90]  sonst gemeint haben?
Das Flughafengebäude? Das Hotel?
    »Um ehrlich zu sein, Enten interessieren mich nicht so. Ich bin einer
der vierzig wichtigsten Adam-Smith-Spezialisten.«
    Lea kramt in ihrer Tasche und sucht ihren Pass. Roland schaut auf sein
Handy. Noch mindestens fünfzehn Leute stehen vor ihnen, doch er hat seinen Pass
schon in der Hand.
    »Schön für dich. Aber das Buch handelt nicht vom Tod, sondern davon,
dass man mit dem Tod Freundschaft schließen kann, oder
interessiert dich das auch nicht so?«
    Mit zwanzig, zweiundzwanzig hatte sie bescheidene Erwartungen an die
Zukunft. Einen Mann, ein bis zwei Kinder, arbeiten für
eine Zeitschrift, einen Verlag, ein Museum oder eine
Tageszeitung. Jetzt träumt sie manchmal davon, sich ein Haus mit einem Babysitter
zu teilen. Sie arbeitet an ihrem Buch, der Babysitter spielt mit Ava und Gabe. Es
ist ein Tagtraum, aber manchmal wird er zur Obsession.
    »Willst du eine ehrliche Antwort?«, fragt Roland. »Ich kann mit Freundschaft nicht so viel anfangen. Und Kinderbücher habe ich auch schon
lange nicht mehr gelesen.«
    »Laut Derrida folgt die Organisation des Lebens letztlich einer Ökonomie
des Todes.«
    »Ich glaube nicht, dass Derrida viel von
Wirtschaft versteht.«
    Er wirkt gereizt.
    Gestern Abend im Bett, nach dem Sex, hat Sven Durano ausführlich von
seinem Fachgebiet gesprochen, mit einer Begeisterung, die fast ansteckend war. Das
ist also [91]  Fremdgehen, hatte sie gedacht: Man liegt mit jemandem im Bett und hört
Vorträge über Ökonomie.
    »Er interessiert sich wahnsinnig für Vulkane«, sagt Lea, während sie
weiter in ihrer Tasche herumwühlt. Zwei Äpfel kommen zum Vorschein. Ihren Pass hat
sie immer noch nicht gefunden.
    »Wer? Derrida?«
    »Mein Sohn. Zu seinem Geburtstag musste ich ihm eine Vulkantorte backen.«
    »Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt«, sagt er, »Vulkantorten«,
und steckt sein Handy wieder ein.
    »Gibt es auch nicht. Ich hab improvisiert. Ich hab mir die Torte selbst
ausgedacht. Weil er so versessen auf Vulkane ist, er will alles darüber wissen.
Ich war ziemlich stolz auf mich. Es gab sogar einen richtigen Ausbruch. Auf der
Torte. Kannst du das mal kurz halten?« Sie streut ihm ein Häufchen Pistazienschalen
auf die Hand und legt ein paar zerknickte Visitenkarten dazu.
    »Eine Torte mit einem Vulkanausbruch? Das hab ich noch nie gehört. Klingt
nicht wie etwas, das man hinterher noch essen möchte. Kannst du gut backen? – Was
suchst du eigentlich?«
    »Meinen Pass. Manchmal kann er so arrogant Fragen stellen, dass ich fast
denke, er findet mich dumm. Gabe, meine ich. Wenn ich
mal keine Antwort parat habe. Wenn er zum Beispiel fragt: ›Mama, was ist ein schwarzes
Loch?‹, und ich dann sage: ›Das müssen wir zu Haus nachschauen‹, dann sieht er mich
an, als ob ich bekloppt wäre. Dann fragt er: ›Weißt du das wirklich nicht, Mama?‹,
in so einem Ton wie: ›Meine Güte, womit hab ich nur so eine Mutter verdient.‹«
    [92]  »Gerade eben hattest du ihn noch«, sagt Roland. »Du hast ihn dem Mann
beim Einchecken gezeigt. – Leute reden immer von Eltern, die zu hohe Erwartungen
an ihre Kinder haben, aber das Umgekehrte kommt ebenfalls vor: Kinder, die zu hohe
Erwartungen an ihre Eltern haben. Ich zum Beispiel, ich leide unter den Erwartungen
von meinem. Und dir geht es ähnlich, hab ich den Eindruck.«
    Sie kramt weiter in ihrer Tasche.
    »Interessiert dein Sohn sich für irgendetwas? Es ist doch ein Junge,
nicht wahr?«
    »Ja, ein Junge. Aber nicht für Vulkane. Er ist bockig. Vielleicht ist
das seine Passion. Er findet es spannend, bockig zu sein.
Fasziniert von der Revolte. Ein geborener Revolutionär, Berufs revolutionär.«
    Roland lacht, aber sie findet es nicht lustig.
Das einzig Lustige daran ist seine sichtliche Fähigkeit zur Selbstironie.
    »Und wie alt ist er?«
    »Fast fünf. – Haben die Pistazienschalen hier für dich irgendeine tiefere
emotionale Bedeutung? Oder darf ich sie wegwerfen?«
    »Schmeiß sie ruhig weg«, sagt sie.
    »Und die Visitenkarten?«
    Eine nach der anderen nimmt sie ihm die Karten aus der Hand, studiert
sie und steckt sie dann zurück in die Tasche.
    Er geht ein paar Schritte beiseite und wirft die
Pistazienschalen in einen Mülleimer.
    »Das dauert aber«, sagt er. »Falsche Schlange
erwischt.«
    Sie weiß nicht mehr, warum sie geheiratet hat, nur noch, dass alle

Weitere Kostenlose Bücher