Mit Haut und Haaren
Zahnärztin
darf man nicht zu viel reden. Nicht im Behandlungszimmer auf jeden Fall.
»Ist das nur mein Eindruck«, hatte sie beim Reinkommen ihre Helferin
gefragt, »oder ist es hier so schwül?«
Mechteld hatte die Schultern gezuckt. Sie war ins Wartezimmer gegangen
und hatte die Dame hereingerufen.
Sylvies Eltern wäre es lieber gewesen, sie hätte etwas anderes studiert,
Wirtschaftswissenschaften
zum Beispiel oder BWL , doch von klein auf übten Zähne
eine magische Anziehungskraft auf sie aus.
Nicht nur die Zähne von Menschen, auch die von Tieren, von Hunden etwa.
Sie hatte einmal einen Hamster, der von einem Hund zerrissen wurde. Seitdem faszinierten
sie Beißwerkzeuge. Ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, weiß sie nicht
mehr. Manchmal ist eine Anekdote bequemer als eine vage Erinnerung. Vor allem, wenn
Leute einen ständig fragen: »Warum eigentlich Zahnmedizin?«
Nicht, dass viele diese Frage noch stellen. Wenn man erst einmal Zahnärztin
ist, hört die Fragerei auf.
Wie auch immer, sie hatte ihren Berufswunsch durchgesetzt.
Die Zähne der Menschen führen ein eigenes Leben. Todkranke können ein
völlig gesundes Gebiss haben und Gesunde ein völlig marodes.
Sylvie beginnt die Untersuchung und denkt dabei an ihren depressiven
Freund. Vielleicht geht es einem ohne Mann besser. Mit »einem« meint sie eigentlich
sich selbst, doch wenn man es allgemeiner ausdrückt, klingt es eher wie eine unverrückbare
Wahrheit, die niemanden vor den Kopf stößt.
[123] Die Dame macht ihr ein Zeichen, sie möchte sich aufsetzen.
Sylvie nimmt die Instrumente aus ihrem Mund.
»Spülen«, sagt die Dame. Es klingt wie ein Fluch. Der Becher zittert
in ihrer Hand. Die meisten Patienten sind ruhig und freundlich, mit Kindern kann
Sylvie gut umgehen, wenn die Eltern mithelfen zumindest. Doch auch an aggressive
Patienten hat sie sich gewöhnt. Querulanten, Heulsusen, halb Verrückte.
Die Dame sitzt aufrecht da, den Becher in der Hand. Sylvie wartet geduldig.
Man darf Patienten nicht hetzen.
Den Blick auf das Gesicht und die Frisur ihres Gegenübers gerichtet,
muss Sylvie an Jonathan denken, doch dann lenkt sie die Aufmerksamkeit wieder auf
die Patientin. »Ich schieb Sie dazwischen«, hatte sie zu der Dame gesagt, als die
gestern – am Sonntag! – angerufen hatte. Es hatte dringend geklungen.
Ein Zahnarzt ist kein Schweizer Schnellzug. Es ist nicht schlimm, wenn
Patienten einmal zwanzig Minuten lang warten müssen. Für kleinere Kinder hat sie
Spielzeug im Wartezimmer, alte Spielsachen von Jonathan, für Ältere liegen populärwissenschaftliche Zeitschriften aus. Für Erwachsene
hält sie anspruchsvolle Magazine bereit. Klatsch- und Schundblätter kommen ihr nicht
in die Praxis.
Seit einigen Tagen schaut sie abends, bevor sie nach Hause geht, schnell
noch im Wartezimmer nach, ob auch niemand etwas liegengelassen hat. In diesen Momenten
vergisst sie alles und hat nur noch den Wunsch, hier sitzen zu bleiben, bis jemand
sie hereinruft, obwohl sie keine Ahnung hat, wer das
tun sollte.
[124] Die Patientin trinkt das Wasser, das eigentlich zum Spülen gedacht
ist. Egal. Soll sie’s eben trinken.
Sylvie wirft einen flüchtigen
Blick in die Patientenakte.
Die Scheidung verlief problemlos, soweit das bei Scheidungen möglich
ist. Roland hatte in den USA eine Stelle angeboten
bekommen, und sie wollte ihre Praxis nicht aufgeben. Eins kam zum anderen. Hinterher
hat sie sich manchmal gefragt, warum sie so sehr auf ihrer Praxis beharrte, es ihr
als ein Alptraum erschienen war, allein mit dem Kind in einer amerikanischen Universitätsstadt
zu hocken. Warum sie nicht versucht hatte, dort Arbeit zu finden.
Doch irgendwie war eine Last von ihr genommen, und sie hatte heimlich an eine neue
Beziehung gedacht. Sie hat nie verstanden, warum Roland unbedingt in die USA wollte. Er hatte es ihr erklärt, doch die Details hat
sie vergessen. Letztlich lief es auf Ehrgeiz hinaus, das war die Quintessenz seines
Vortrags gewesen. Sie kann sich noch gut erinnern, wie sie seinen Mund angestarrt
hatte, während der sich beim Sprechen bewegte. Und dass sie an einen Delphin denken
musste, als sie den Mund zum ersten Mal gesehen hatte.
Nicht lange darauf, als unumstößlich feststand, dass er in den USA Karriere machen wollte, war ihr klargeworden, dass ihre
Ehe so etwas wie ein fauler Zahn war. Man hatte Karies festgestellt; was zu tun
war, lag auf der Hand. Man musste eingreifen; je länger man wartete, desto mehr
würde es
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