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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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leben?
    Seine Augen sind offen, doch er schaut sie
nicht an.
    Andererseits, warum nur nach dem einen streben: ein bisschen armseliger
Luxus, Komfort. Dreimal pro Jahr in den Urlaub. Kino und Literatur, um beim Abendessen
was zu erzählen zu haben. Wohlmeinende Gespräche über Politik zum Kaffee und zum Dessert.
    Sie kniet sich neben das Kopfkissen.
    »Heute Abend komme ich kochen«, sagt sie. »Heute Abend essen Jonathan
und ich bei dir.«
    Keinerlei Reaktion.
    »Soll ich die Vorhänge aufziehen?«
    Er hat Medikamente verschrieben bekommen, doch sie hat den Verdacht,
dass er die nicht nimmt.
    »Ich muss gleich los. In die Praxis.«
    An Schweigen gewöhnt man sich nie ganz. Selbst wenn man sich darauf eingestellt
hat, trifft es einen doch jedes Mal neu.
    So geht es nicht weiter. Doch was soll man machen? Es gibt keinen Notausgang,
das hier ist ihr Leben. Ein [113]  schweigender Freund oder gar keiner. Dann ist ein
schweigender Freund vielleicht doch besser, denn ab und zu spricht er ja.
    Sie will aufstehen, sonst kommt sie zu spät, sie möchte niemanden warten
lassen.
    »Die Post liegt auf dem Tisch«, sagt sie. »Und da hat jemand einen Zettel
unter der Tür durchgeschoben, er sucht seine Katze. Ein Weibchen. Mimi. Ich hab
den Zettel dazugelegt, wer weiß … Vielleicht hast du Mimi gesehen.«
    Sie wirft einen Blick auf die Vorhänge. Sie
riecht nichts mehr, nicht das Pfadfinderlager, nicht
sich selbst, nicht ihn. Leichte Übelkeit überkommt sie. Als hätte sie am Morgen
etwas Falsches gegessen, doch das hat sie nicht, nur etwas Tee getrunken.
    »Du hast Mimi also nicht gesehen?«, fragt sie. »Du weißt von gar nichts.«
    11
    In derselben Buchhandlung, wo sie das Geschenk für ihre Tochter
gekauft hat, hat Lea den Briefwechsel zwischen Paul Celan
und Ingeborg Bachmann entdeckt. Ein Geschenk an sich selbst. Ein kleines Bonbon.
Obwohl das Buch über den Tod und die Ente eigentlich auch schon für sie war. Der
Gedanke, es sei für ihre Tochter, war, nachträglich betrachtet, wohl eher ein Vorwand.
    Vor dem Abflug nach Frankfurt hatte sie sich [114]  geschworen, auf dieser Reise nicht mehr als hundert Euro für Bücher auszugeben.
    Den Briefwechsel von Celan und Bachmann in Händen, lauscht sie der Begrüßung
des Piloten.
    Der Flug führt über das Ruhrgebiet, Amsterdam und Großbritannien nach
Irland und dann weiter über den Atlantik.
    Über Manchester holt sie eine Tüte getrockneter Aprikosen aus ihrer Handtasche.
Sie schaut Roland an. Er hat eine Zeitschrift vor sich, The Journal of Economic Methodology, doch Lea hat den Eindruck, er schläft mit offenen Augen. Schon über eine halbe Stunde starrt er vor sich
hin.
    »Magst du eine getrocknete Aprikose?«, fragt sie.
    Er schaut auf die Tüte. Er schläft also doch
nicht. Es sind Bio-Aprikosen. Nicht, dass ihr »bio« besonders wichtig wäre.
    »Nein danke«, sagt er.
    »Bist du sicher?«, fragt sie.
    Er scheint zu zögern, lacht schüchtern, als hätte sie ihn etwas Unanständiges
und doch Verlockendes gefragt. Nach einem Weilchen sagt er: »Na gut, aber nur eine.«
    Der Briefwechsel hat sie melancholisch gestimmt. Die leichte Euphorie
der vergangenen Tage ist verschwunden. Sie ist wieder allein mit ihrer Familie und
Rudolf Höß.
    Während er eine getrocknete Aprikose aus der Tüte nimmt, fragt sie: »Hast
du eigentlich mal etwas von Celan gelesen?«
    »Nein«, sagt er. »Nimmst du immer was zu essen ins Flugzeug mit? Hast
du Angst, du könntest verhungern?«
    »Ich habe Angst«, sagt sie mit Nachdruck, »vor dem [115]  Essen hier. Das
ist doch besser als der übliche Flugzeugfraß?« Sie zeigt auf die getrockneten Aprikosen.
»Nimm ruhig noch eine.«
    Roland schüttelt den Kopf. Er vertieft sich
wieder in seine Zeitschrift. Sie schaut ihm über die
Schulter und liest ein paar Zeilen.
    »Mein Gott«, erklärt sie, ohne zu wissen, ob sie zu ihm spricht oder
einfach laut denkt, »diese akademische Prosa! Bin ich froh, dass ich keine Unikarriere
angestrebt habe. Über so einen Stil kann man nur lachen.«
    »Willst du mich beleidigen?«, fragt er und nimmt noch eine getrocknete
Aprikose aus ihrer Tüte. »Über den Holocaust ist doch auch akademische Prosa erschienen?«
    »Manchmal muss ich auch über die lachen. Ich hab meinem Mann von dir
erzählt.«
    »Warum das?«
    Er schaut sie verdutzt an, man könnte meinen, er zieht ein Gesicht. Sei
es wegen ihres Mannes oder wegen der Aprikosen.
    »Ich möchte gern, dass er merkt, wer ich bin.«
    »Aha. Und was hast du

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