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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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Prüderie gehört zum Charme
der hiesigen Mittelklasse. Dabei hatte er den Verhaltenskodex seiner damaligen Uni
überhaupt nicht verletzt.
    Für einen Moment beherrscht ihn der quälende Gedanke – eine Phantasie,
mehr ist es nicht –, Violet könnte ihn mit einem Kollegen betrogen haben, einem,
den er verachtet. Einem drittklassigen Wissenschaftler
mit viel Ehrgeiz, wenig Intelligenz und einer gewaltigen Latte.
    Dann denkt er wieder an Lea. Immer noch steht sie mit dem Rucksack neben
ihm. Vielleicht ist sie unschlüssig, ob sie sie nicht doch miteinander bekannt machen
soll.
    Er sieht seinen Koffer und nimmt ihn vom Band.
    »Es ist nichts passiert«, sagt Lea. »Aber du bist nicht sein Typ. Vielleicht
ein andermal.«
    »Sein Typ? Wie meinst du das?«
    »Wie ich es sage.«
    »Was für ein Typ bin ich denn?«
    »Er redet gern über Politik.«
    »Und woher willst du wissen, dass ich mich nicht dafür interessiere?«
    Sie gehen zur Passkontrolle. »Soll ich dir tragen helfen?«, fragt er.
    »Nein«, antwortet sie.
    In der Schlange sagt sie auf einmal: »Du hast die vergangenen drei Tage
kein einziges Mal davon angefangen.«
    »Von Politik? Nein. Aber das heißt doch nicht, dass ich mich nicht dafür
interessiere. Dürfen dein Mann und ich bitte selber entscheiden, ob wir einander
liegen?«
    Er überreicht dem Grenzbeamten das Formular, auf dem [132]  er angekreuzt
hat, dass er nichts zu verzollen hat und dass der Grund seines Aufenthalts in den USA geschäftlicher Natur
ist. Der Beamte wirft einen kurzen Blick darauf und bedeutet
Roland dann mit einem Nicken, dass er weitergehen kann.
    »Ich schick dir eine SMS «, sagt Lea. »Ich sehe ihn schon.«
    »Wer ist es?«, fragt Roland.
    »Red jetzt bitte nicht mehr mit mir.«
    »Ich sehe ihn auch«, sagt Roland. »Netter Mann. Soweit ich’s von hier
aus beurteilen kann.«
    »Ich schick dir ’ne SMS «, wiederholt Lea.
    Sie beschleunigt ihren Schritt.
    Er geht langsamer; kniet sich hin, löst seine Schnürsenkel und bindet
sie neu.
    Heute Abend, wenn er zu Hause ist, wird er eine Pizza bestellen und noch
etwas arbeiten. Mögen manche auch anders darüber denken, für ihn ist es das beste
Leben, das es gibt. Roland stellt seine Berufung nicht in Frage. Obwohl andere ihm
in der Vergangenheit dringend geraten haben, das doch einmal zu tun. Die Mutter
seines Sohnes zum Beispiel.
    Er sieht, wie Lea eins ihrer Kinder hochhebt, dem Aussehen nach das jüngste.
Ihre Haltung dabei wirkt irgendwie merkwürdig, geistesabwesend. Als gehörte die
Kleine gar nicht zu ihr, ja als sei sie kein Kind, sondern ein Laib Brot. Ganz nah
ist Lea dem Mädchen und doch ganz weit weg.
    Dicht neben ihrem Mann geht er zum Ausgang. In der Schlange vor den Taxis
schaltet er sein Mobiltelefon ein.

[133]  III
    Diversifikation

[135]  1
    Als Roland Oberstein vor einigen Jahren das Angebot erreichte,
an die George Mason University in Fairfax zu gehen, nahm er das wie selbstverständlich
hin. Er hatte sich auch ausführlich um diese Stelle beworben.
    Als ginge es um die Buchung eines Hotels für ein verlängertes Wochenende,
teilte er der Universitätsleitung nur kurz förmlich mit, dass er ihr Angebot akzeptiere;
er kündigte seine Stelle in den Niederlanden, beschloss, seine Frau zu informieren,
erzählte es seinem kaum einjährigen Sohn – von dieser Seite hatte er wenig Widerstand
zu befürchten: »Papa geht für eine Weile weg, aber er kommt wieder« – und begann,
Vorbereitungen für seine Abreise zu treffen. Vielleicht
hätte er diese Schritte besser in umgekehrter Reihenfolge gemacht, erst seine Frau
und seinen Arbeitgeber informiert, die Sache zuvor eventuell noch mit ihnen besprochen,
bevor er die Stelle in den USA definitiv annahm, doch er hatte sich von seiner Begeisterung
hinreißen lassen. Enthusiasmus und Ehrgeiz sind nur schwer auseinanderzuhalten.
    Eines Montags morgens, während er im Zug von Amsterdam nach Rotterdam
aus dem Fenster schaute – er saß öfter im Zug, nicht
nur montagmorgens – und auf dem Bahnhof von Hoofddorp leicht zerstreut die Pendler
beobachtete, soweit das aus einem fahrenden Zug überhaupt möglich ist, [136]  hatte
er gedacht: Wenn ich jetzt nicht gehe, bleib ich für immer hier hängen, dann sitze
ich in zehn Jahren noch in solchen Zügen, bis zur Pensionierung, vielleicht sogar
noch länger.
    Die Idee hatte ihn mit Schaudern erfüllt.
    Dort, im Zug nach Rotterdam, hatte er innerlich seinen Abschied genommen.
Noch am selben Abend hatte er die ersten vier

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