Mit Haut und Haaren
weh tun. Außer der Ehe gab es ein weiteres Problem, das gelöst werden musste,
der gemeinsame Sohn, aber auch das war nicht unlösbar. Nicht heutzutage. Man kann
ein Kind auch allein erziehen. So viel hatte ihr Mann ohnehin nicht [125] zur Erziehung
beigetragen. Der Beitrag hatte sich aufs Bezahlen beschränkt, und das würde er auch
weiterhin tun. So hatte sie gedacht und es auch ihren Freundinnen erklärt und ihrer
damaligen Helferin.
»Mir ist schlecht«, sagt die Dame.
»Wir sind gleich fertig«, erwidert Sylvie. »Ich habe nichts gefunden.
Alles tadellos!«
Viele Leute halten Sylvie für eine starke Frau, und auch sie selbst hat
das lange geglaubt. Die Kraft, die man ihr zuschrieb,
gehörte ebenso zu ihrem Selbstbild wie die Sorge um die Schneide- und Backenzähne
ihrer Patienten.
Seit kurzem jedoch ist sie sich dieser Eigenschaft
nicht mehr so sicher.
»Frau Doktor, es tut immer noch weh«, sagt die Patientin. Der Ton lässt
keinen Zweifel, wer ihrer Meinung nach die Schuld daran trägt. Manche Patienten
beschuldigen gern.
Es begann mit Rückenbeschwerden. Sylvie kaufte sich eine neue Matratze.
Die Schmerzen blieben, unverändert. Sie ging zum Physiotherapeuten, doch das half
nicht viel. Der Physiotherapeut hatte sie angesehen und gesagt: »Es kommt vom Stress.«
»Ich hab keinen Stress«, hatte sie geantwortet. »Ich führe ein ruhiges,
geordnetes Leben.«
Am nächsten Wochenende hatte sie in der Nachbarschaft am Sandkasten gesessen, ihrem Sohn zugeschaut und den anderen
Kindern, wie sie es öfter tat, ein bisschen verträumt
und doch wachsam – glücklich, so meinte sie, ohne sagen zu können, warum. »Dann
spielst du eben mal kurz nicht mit deinem Eimer«, hatte sie gerade gerufen, daran
kann sie sich noch erinnern.
[126] Da hatte eine Freundin – die vielleicht doch eher nur die Mutter einer
von Jonathans Spielkameradinnen war – sich neben sie gesetzt und gefragt: »Stimmt
es, dass Jonathan immer noch bei dir mit im Bett schläft?«
»Ja«, hatte sie geantwortet. »Warum?«
»Einfach so. Ist das nicht komisch? Ist das normal?«
Sylvie hatte die Achseln gezuckt. »In manchen Kulturen schlafen Kinder
bis zum zwölften Lebensjahr bei ihren Eltern.«
Ihr fiel gerade nicht ein, in welchen.
An ihren Erziehungsmethoden duldet sie keinen Zweifel.
»Kriegt er davon später mal keine Probleme?«, hatte die Frau weitergefragt,
und Sylvie hatte den Kopf geschüttelt, mehr nicht. Nur den Kopf geschüttelt. Doch
an dem Tag hatte es angefangen. Etwas in ihr war zerbrochen. Sie konnte es nicht
richtig in Worte fassen.
Einmal hatte sie es versucht: »Manchmal kommt es mir vor, als lebte ich
in einem Glashaus«, hatte sie einer Freundin erklärt.
»Was soll das bedeuten?«, hatte die zurückgefragt. »›In einem Glashaus‹?«
Doch obwohl Sylvie das Wort selbst benutzt hatte, wusste sie plötzlich
nicht mehr, was sie damit meinte. Sie hätte sagen können, dass ihr die Patienten
manchmal vor den Augen verschwammen, sie in ihre offenen
Münder blickte und zu träumen begann. Doch das sprach sie lieber nicht aus.
Die Welt wollte sie und Jonathan auseinanderreißen – und das war ein
unerträgliches Unrecht, das sie nicht hinnehmen konnte.
[127] 13
Wie jeder Mensch hat auch Mevrouw Oberstein ihre Geheimnisse,
ihr größtes ist ihr Alter. Niemand darf es erfahren. Früher nicht mal ihr Sohn,
und ihre Freunde schon gar nicht, obwohl die es sich ausrechnen konnten. Heute glaubt
sie manchmal, es ist ihr einziges verbliebenes Geheimnis, alle anderen haben sich
in Luft aufgelöst. Sie hat alle Geheimnisse überlebt.
Mevrouw Oberstein steht an der Kasse eines großen Drogeriemarkts. In
der Linken hält sie einen Stock, in der Rechten ein Notizbuch. Bevor sie ein Produkt
nimmt und es in den Einkaufskorb legt, schreibt sie den Preis auf, um sicherzugehen,
dass die Frau an der Kasse nachher auch ja den richtigen Betrag eintippt.
»Alte Leute«, sagt sie oft, »zählen nicht
mehr mit.« Sie jedoch lebte schon lange, bevor sie wirklich alt wurde, in der beängstigenden
und zugleich beruhigenden Gewissheit, dass die Welt es darauf anlegte, sie zu betrügen.
Die Welt ist kein leeres und sinnloses Universum, wie sie es manchmal im Fernsehen
hört – dann schaltet sie sofort um, so einen Unsinn will sie nicht hören –, die
Welt hat einen ureigenen Zweck, nämlich den, sie, Mevrouw Oberstein, zu betrügen,
und sei es nur um ein paar Cent.
»Das macht dann zweiundzwanzig achtzig«, sagt die
Weitere Kostenlose Bücher