Mit Haut und Haaren
aus«, sagt
Roland. »Manchmal frage ich mich, wie du in einem Lager überlebt hättest. Hättest
du die SS auch gefragt: ›Womit sind die vegetarischen Ravioli heute gefüllt?‹«
[119] Sie bestreicht ein Brötchen mit etwas Butter.
»Gibt es eigentlich irgendetwas, das dir noch mehr Spaß macht, als Leute
zu ärgern?«, möchte sie wissen.
»Nein, eigentlich nicht«, meint Roland nach einer kurzen Pause. »Die
Leute sind dazu da, geärgert zu werden, und zur Fortpflanzung.
Ich necke jeden in meiner Umgebung, außer meine Studenten. Auch meine Kollegen.
So gut ich kann. Die Universität ist ein Ort, an dem Dozenten einander nach Herzenslust
triezen und Studenten relativ leicht Sexpartner finden.
Was das Triezen anbelangt, sind Professoren natürlich ein wenig im Vorteil.«
»Du bist doch gar kein Professor?«
»Darum meine Bemerkung.«
Er lächelt arrogant, während er mühsam sein Rindfleisch
schneidet.
»Ich bin froh, dass ich dich nicht als Dozenten gehabt habe. Was genau
machst du eigentlich?«
»Ich lass es mir schmecken«, sagt er.
»Mit dem Holocaust, meine ich. Was ist dein
Ansatz?«
»Mein Ansatz? Liebe Güte!«
Ein scheußliches Wort, sie muss es zugeben. Es muss an der Konferenz
liegen. Dort fallen solche Begriffe andauernd.
Sie hat ihre Ravioli noch immer nicht angerührt. Die Pasta ist grün.
Eklig grün.
Mit vollem Mund sagt er: »Ich bin Wirtschaftswissenschaftler, also betrachte ich Völkermord aus dieser Perspektive.
Der Holocaust ist, wie gesagt, mehr ein Hobby von mir, das sich verselbständigt
hat. Ich kann dir ein Buch geben, an dem ich mitgearbeitet habe: Economic Origins of [120] Dictatorship and Genocide. Ich habe noch
mindestens zwanzig davon in einem Karton.«
»Und Sven Durano?«
»Sven Durano?« Er wischt sich den Mund ab. »Keine Ahnung. Ich wusste
nicht, dass der sich auch für Völkermord interessiert. Ein Kollege.«
»Kennst du ihn gut?«
»Seine Arbeit?« Oberstein nimmt noch einen Bissen Rindfleisch. »Nicht ernst zu nehmen. Wie ich schon sagte. Beschämend
schlecht eigentlich. Er ist einer der Leute, die unsere Wissenschaft in Verruf bringen. Wir begegnen uns ab und zu, netter Kerl,
das schon. Immer freundlich. Doch in der Wissenschaft sind
angenehme Manieren nicht genug. Wissenschaft ist mehr
als Händeschütteln und Visitenkarten verteilen.«
Oberstein schüttelt wie angeekelt den Kopf, er wischt sich mit der Serviette
über Mund und Kinn.
Lea will etwas sagen, doch Oberstein kommt ihr zuvor.
»Wenn es dich interessiert: Mein eigentliches Fachgebiet sind Spekulationsblasen.
Die Geschichte der ökonomischen Blasenbildung.« Zum ersten Mal, seit sie ihn kennt,
sieht sie in seinen Augen ein eigenartiges Glitzern, ein Feuer, tiefe Begeisterung.
Eine Raserei, in der Glück und Abscheu miteinander vereint scheinen. »Oder wenn
du so willst: die Geschichte des Betrugs, wie Menschen alles daransetzen, betrogen
zu werden.«
Er legt seine Serviette zurück auf den Schoß. Er hat sich wieder beruhigt
und schneidet weiter sein Fleisch.
Es ist das erste Mal, dass Lea ihn so enthusiastisch erlebt hat, doch
auch das erste Mal, dass sie sich ein wenig vor ihm [121] fürchtet. Nicht sehr, nur
ein bisschen. Es ist eigentlich auch keine richtige Angst, eher ein Anflug von Unruhe. Einerseits fühlt sie sich bei ihm geborgen,
doch zugleich ist er ihr auch unheimlich. Nicht mal die schlechteste Kombination.
12
Sylvie ist Kinderzahnärztin, aber manchmal kommen auch Erwachsene
zu ihr. Jetzt liegt eine ältere Dame im Behandlungsstuhl, die sich ärgert, weil
Sylvie zu spät gekommen ist.
»Ich hatte einen Termin für zehn Uhr«, empört sich die Dame, »und wissen
Sie, wie spät es jetzt ist, Frau Doktor?«
Sylvie hat eine neue Helferin. Die vorige hatte beschlossen, selbst Zahnmedizin
zu studieren. Sylvie begrüßte diesen Entschluss, obwohl sie sich eine neue Assistentin
suchen musste, was nicht eben einfach war. Momentan hat sie eine gewisse Mechteld
aus Kerkrade, die mittlerweile recht ordentlich Niederländisch spricht, nicht einfach
für jemanden so weit aus dem Süden. In den ersten Wochen konnte sie die junge Frau
kaum verstehen.
Sylvie war geradewegs in den Aufenthaltsraum gegangen, hatte ihre Jacke
ausgezogen, sich die Hände gewaschen und die Tür zur Terrasse geöffnet. Die Praxis geht auf einen Garten hinaus, in dem sie
manchmal bei schönem Wetter mit ihrer Helferin einen Tee trinkt.
Zu der Patientin hat Sylvie noch kein Wort gesagt. Als [122]
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