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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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ihm erzählt?«
    Er schlägt die Zeitschrift zu.
    Sie denkt an ihre Kinder, die Wohnung, im Flur ist ein Wasserschaden,
sie hat schon vor Wochen versprochen, die Maler zu rufen, aber es immer wieder verschoben.
Sie müsste auch die Versicherung anrufen, hat aber auch das nicht getan. Sie brachte
es einfach nicht fertig. Sie hatte das Telefon schon in der Hand, die Nummern der
Versicherungsgesellschaft und der Maler notiert, und
dann doch wieder aufgelegt. Höß war dringender.
    [116]  Lea fragt sich, warum sie Oberstein anziehend findet. Sie weiß es selbst nicht recht. Sie spürt eine gewisse
Vertrautheit, schon seit dem ersten Abend in der Buffetschlange.
Er vermittelt ihr ein Gefühl von innerer Ruhe. Natürlich ist erotische Anziehung
etwas anderes, geradezu das Gegenteil.
    Sven Durano war aufregend, durch sein Aussehen, seine Direktheit, doch
letztlich empfand sie nichts dabei oder jedenfalls zu wenig. Nicht so viel, wie
sie sich all die Jahre erträumt hatte.
    »Was hast du ihm erzählt?«, fragt Roland noch einmal. »Es ist doch nichts
passiert?«
    Er klingt leicht erregt, aber vielleicht bildet sie sich das nur ein.
    »Muss etwas passiert sein, wenn man jemandem etwas erzählt?«, will sie
wissen. »Ich habe gesagt, dass ich jemanden kennengelernt habe, der ein Freund werden
könnte.«
    »Und was hat er gesagt?«
    »Ich weiß nicht, ob er richtig zugehört hat, er hatte zu tun, er war
mit den Kindern beschäftigt und hatte seine Arbeit im
Kopf. Aber er hat wörtlich gesagt: ›Ich freu mich für dich.‹«
    »Sympathische Reaktion.«
    »Das sagt er öfter, wenn er nur mit halbem
Ohr zuhört.«
    Roland schlägt seine Zeitschrift wieder auf,
aus der Hosentasche holt er einen Bleistiftstummel und
streicht etwas an.
    »Hast du gerade gelesen?«, fragt sie. »Hab
ich dich gestört?«
    [117]  »Halb gelesen, halb geschlafen«, sagt er. »Gestört hast du mich jedenfalls
nicht.«
    Etwas weiter im Gang beginnen die Stewardessen, das Essen auszugeben.
    »Hast du noch einmal mit deiner Freundin
gesprochen?«
    Den Bleistift in der Hand, schaut er sie an.
»Warum?«
    »Wegen der Liebesaventüren.«
    Er blättert um und streicht einen Absatz an.
    »Ein bisschen.«
    »Möchtest du nicht darüber reden? Noch eine Aprikose?«
    Sie schaut den Stewardessen bei der Essensausgabe zu. Die Routine, mit
der sie arbeiten, fasziniert sie. Als seien sie dazu geboren, hätten im Leben nie
etwas anderes getan und auch nichts anderes mehr vor. Es gibt wenig, das sie selbst
routiniert tut. Haare waschen vielleicht. Oder lesen.
    Sie denkt an den Mann, mit dem sie ihren Gatten betrogen hat. Sie ist
fremdgegangen, wie andere Leute sich entjungfern lassen, weil sie fand, dass es
höchste Zeit wurde.
    »Ach«, sagt Roland, »muss man das immer durchkauen? Es gibt nicht viel
darüber zu sagen. Ich wüsste gern, wie es abgelaufen ist. Das schon.«
    »Wie was abgelaufen ist?«, fragt Lea.
    »Mit dem anderen Mann. Wie es abgelaufen ist.«
    »Was? Der Sex?«
    »Das Kennenlernen, der erste Kuss, der Sex, die ganze Aktion bis zum
Abschied. Solche Dinge sind doch interessant, wenn es um deine Freundin geht?«
    »Die Aktion ?«
    Die Tüte ist jetzt fast leer. Aus einem unbestimmten [118]  Schuldgefühl
heraus friemelt sie zwei verklebte Aprikosen auseinander und legt eine zurück in
die Tüte. »Ist das nicht seltsam? Tut es dir nicht weh? Macht es dich nicht eifersüchtig?«
    Er schaut sie missbilligend an. »Ich bin Wissenschaftler«, sagt er. »Auf jeden Fall sage ich mir das immer. Wahrheit
ist wichtiger als Schmerz.«
    »Masochist«, sagt sie. »Wenn mein Mann fremdgehen würde – ich kann mir
nicht vorstellen, dass er es tut, aber wenn: Ich würde es nicht wissen wollen.«
    Eine Stewardess beugt sich über Roland. Sie schaut Lea an, sagt etwas,
doch die reagiert nicht. Sie hat gesehen, wie sich die Lippen der Frau bewegten,
aber kein Wort verstanden.
    »Was fragt sie?«, will sie von Roland wissen.
    »Rindfleisch oder vegetarische Ravioli.«
    »Was ist in den Ravioli?«
    »Was Vegetarisches eben. Soll ich sie das fragen?
Du sprichst doch selbst Deutsch?« Roland lächelt freundlich. Doch es klingt, als
schäme er sich, solche Fragen zu stellen. Als sei es ihm irgendwie peinlich.
    »Ricotta«, antwortet die Stewardess.
    »Dann nehme ich die vegetarischen Ravioli«, sagt Lea.
    Roland nimmt das Rindfleisch.
    Beide starren auf ihr Essen.
    »Mein Gott«, sagt Lea. »Ich hätte mehr Aprikosen mitnehmen sollen.«
    »Ich finde, es sieht wunderbar

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