Mit Haut und Haaren
Kassiererin.
Mevrouw Oberstein schaut in ihr Notizbuch.
»Ich komme auf zweiundzwanzig sechzig«, erklärt sie.
»Der Computer macht keine Fehler«, erwidert die Frau.
[128] Jetzt wird Mevrouw Oberstein laut. »Wollen Sie etwa behaupten, ich
könnte nicht mehr rechnen?«, fragt sie. »Bloß weil ich alt bin, darum denken Sie,
so ein bisschen Zusammenzählen wäre mir zu hoch. Letztens fragte mich ein Arzt,
welchen Monat wir hätten! Was sind das für Fragen? Ihr seid doch alle gleich!«
Mevrouw Oberstein ist von kleiner Statur, trotzdem hat sie der Kassiererin
Angst eingejagt. Sie fuchtelt mit ihrem Stock herum. Das tut ihr gut. Die Kassiererin
trägt ein Kopftuch. Mevrouw Oberstein hasst Ausländer. Sie kann es nicht ändern.
Manchmal sagt sie zu ihrer Nachbarin: »Ich kann sie nicht ausstehen.
Das wird man doch wohl noch sagen dürfen? Wir leben doch in einer Demokratie?«
Es gibt auch ein paar gute Ausländer. Ali, der Ägypter, zum Beispiel,
der sie herumfährt, wenn ihr fester Taxifahrer nicht kann. Sie gibt ihm immer ein
Trinkgeld. Die Übrigen aber führen nur eines im Schilde: das Land kaputtmachen und
die ganze Welt.
Doch weil das für die meisten zu hoch gegriffen
ist, haben die Ausländer sich vorläufig ein anderes,
bescheideneres Ziel gewählt: Mevrouw Oberstein. Wenn sie die Welt schon nicht kleinkriegen
können, dann wenigstens sie. Doch das wird sie nicht zulassen, sie wird sich wehren,
mit allen erdenklichen Mitteln. Solange es geht.
»Sollen wir’s noch mal versuchen?«, fragt die Kassiererin. Die Schlange
hinter Mevrouw Oberstein wächst. Man hört Seufzen und Stöhnen.
»Ja, machen Sie das«, sagt Mevrouw Oberstein. »Es geht mir nicht um das
Geld, es geht ums Prinzip.«
[129] Langsam zieht die Kassiererin die Produkte zum zweiten Mal über den
Scanner, und Mevrouw Oberstein – ihr Notizbuch fest in der Hand – lässt sie nicht
aus den Augen. Wie ein Raubvogel. Ein Raubvogel, der auf Beute lauert.
14
Der Pilot hat schon zur Landung angesetzt, als Roland fragt:
»Warum hast du eigentlich Deutsch gelernt?«
»Um den Holocaust besser verstehen zu können«, antwortet Lea.
Roland nickt. »Das ist ein Grund.«
»Darf ich deine Hand halten, bis wir am Boden sind?«, fragt sie.
»Es ist ein bisschen turbulent, aber du hast
doch keine Angst?«
»Um ehrlich zu sein, schon. Wenn ich mit meinem Mann fliege, nehme ich auch immer seine Hand.«
Er lässt sie seine Hand halten, obwohl die verschwitzt ist. Sie sitzen
schweigend nebeneinander, bis das Flugzeug am Terminal andockt.
Dann wischt er sich die Hand diskret an der Hose ab.
»Denk daran«, sagt er schließlich, »die Äpfel, die du dabeihast, dürfen
in die USA nicht eingeführt werden.«
Sie sieht ihn enttäuscht an, nimmt die zwei Äpfel heraus und bietet ihm
einen an, doch er möchte keinen, worauf sie beide verschlingt. Die Äpfel sind klein.
Er schaut verdutzt [130] zu. Anziehend wirkt das auf ihn nicht. Es erinnert ihn an
seine Mutter. An der Gepäckausgabe sagt Lea: »Mein Mann holt mich ab, mit den Kindern.«
»Wie nett«, sagt Roland. Doch es klingt düster, als finde er es überhaupt nicht nett. In Wahrheit ist es ihm egal.
Er will zurück an den Schreibtisch, seine Forschung fortsetzen, er will arbeiten,
die Geschichte der Spekulationsblasen wartet auf ihn.
An seiner letzten Universität sagten Kollegen manchmal zu ihm: »Wie trostlos
du heute wieder klingst.«
Worauf er jedes Mal erwiderte: »Wissenschaft ohne
Trostlosigkeit ist nicht möglich.«
Er würde dieses »Wie nett« gern noch einmal sagen, mit mehr Nachdruck.
Er würde gern netter wirken. Was genau er von Lea will, weiß er noch nicht, doch
als Einwanderer betrachtet er es als seine Pflicht, Kontakt
zur ortsansässigen Bevölkerung aufzunehmen. Außer mit ein paar Wissenschaftlern ist ihm das noch bei sehr wenigen gelungen.
»Wollen wir uns hier verabschieden?«, fragt Lea.
Ihr Rucksack ist schon gekommen, er wartet noch auf seinen Koffer.
»Möchtest du mich deinem Mann nicht vorstellen, und deiner Familie?«
»Äh, eigentlich nicht, nicht jetzt. Wenn’s dir nichts ausmacht zumindest.«
»Ausmacht? Es ist doch gar nichts passiert?«
Es klingt, als wollte er sie necken, doch er meint es ernst. Der Sinn
dieser Geheimniskrämerei leuchtet ihm nicht ein. Plötzlich muss er an Violet denken.
Sein Vorgänger bei ihr war einer seiner Studenten. Eine verrückte Geschichte [131] damals,
doch die behält er jetzt lieber für sich. Eine gewisse
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