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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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kümmerst dich um unser Kind und
die Zähne deiner Patienten, ich kümmere mich um die real existierende Welt. Ohne
euch zu vergessen, natürlich. Das kann ich sowieso nicht. Das will ich auch nicht.«
    [142]  Das Dessert war inzwischen gekommen.
    Ihr Handy vibrierte.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Die Babysitterin. Eine SMS von ihr. Sie
möchte nach Hause. Sie schreibt morgen eine Arbeit.«
    Auf dem Nachhauseweg hatte Sylvie erst aufbegehrt, aber nicht sehr. Ein
paar Tränen hatte es auch noch gegeben, aber nicht viele. Für einen Moment hatte
er sogar den Eindruck, dass sie seinen Weggang hatte kommen sehen und er sie vielleicht
sogar erleichterte. Womöglich hatte sie schon jemand anderen im Auge. So was kam
vor. Und er dachte: Es kommt ihr zupass. Die Leichtigkeit, mit der sie nachgab,
machte ihn misstrauisch, es war verdächtig, dass sie kein Drama hinlegte, doch auch
diesen Gedanken behielt er für sich.
    Er machte lieber einen auf gut Wetter.
    In den Wochen danach hatte sie noch ein paarmal geweint, doch das befürchtete
große Drama war ausgeblieben.
    Die Scheidung war blitzschnell geregelt. Bei Geld machte er nie Schwierigkeiten.
    Ohne viel Aufhebens ließ sie ihn gehen. Und er war nicht unglücklich
darüber. Ein wenig enttäuscht vielleicht, dass es so reibungslos ablief, doch das
war Eitelkeit, die man überwinden musste.
    Wie merkwürdig: Jeder Anleger wusste, oder sollte wenigstens wissen,
dass Risikodiversifikation notwendig ist. Setz nie alles
auf eine Karte. Eine Binsenweisheit, die nach wie vor galt. Doch in der Welt menschlicher
Beziehungen war dies auf einmal tabu. Da sollte man plötzlich nicht [143]  mehr diversifizieren. Dabei waren Affären nur
ein anderes Wort für Risikostreuung.
    Nicht dass er eine Affäre hatte oder gehabt
hätte, höchstens mit seiner Arbeit. Mit diesem Gedanken verscheuchte er das Gefühl
seiner Schuld.
    »Bin ich ein schrecklicher Ehemann?«, hatte er noch gefragt, bevor sie
ins Haus gingen.
    »Nein«, hatte Sylvie geantwortet und ihm über die Wange gestrichen, »mach
dir keine Sorgen. ›Schrecklich‹ ist nicht das richtige Wort.«
    Sorgen machte er sich eigentlich auch keine. Schrecklich war höchstens
ein Ehemann, der seine Frau krankenhausreif schlug. Das Schlimmste, was sich über
ihn sagen ließ, war, dass er oft nicht zu Hause war:
auf Tagungen, an der Universität, in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach. Heutzutage
war der Wissenschaftler verpflichtet,
in einer Tour zu publizieren.
    So erstickte er sein Schuldgefühl im Keim. Er war kein schrecklicher
Ehemann. Höchstens öfter geistig und körperlich abwesend,
doch das war etwas anderes.
    Zu Hause hatten sie noch kurz mit der Babysitterin gesprochen, der Tochter
von Freunden, die an Abenden, wenn niemand sonst konnte, bereit war, auf Jonathan
aufzupassen. Oberstein hatte gefragt, wie es in der Schule lief. Und seine Frau,
ob das Mädchen noch einen Tee wolle.
    Der Teenager hatte geantwortet: »Nein, wirklich nicht, ich muss schnell
nach Hause, zum Lernen.«
    Dann waren sie beide nach oben gegangen und hatten nach ihrem schlafenden
Sohn gesehen, wie er in seinem Kinderbett lag. Er hatte sich freigestrampelt.
    [144]  Die Augen noch immer auf den Kleinen gerichtet, sagte seine Frau:
»Ich glaub nicht, dass unsere Beziehung das aushält, wenn du nach Amerika gehst
und ich hier weiter meine Patienten behandle. Aber natürlich haben wir Jonathan,
durch ihn bleiben wir miteinander verbunden.«
    So sieht also das Glück aus, hatte Roland damals gedacht, oder vielmehr
sein Ende. Er war ein Mann, der im Begriff stand, seinem
Ehrgeiz die Familie zu opfern, und dieses Opfer brachte ihn nicht um den Schlaf.
Er erwachte nicht schweißgebadet mit dem Gedanken: »Was habe ich getan?« – es erschien
ihm als ein durchaus vertretbares Opfer.
    Auch in den Tagen und Wochen danach änderte sich Sylvies Verhalten nicht.
Sie schickte sich klaglos in seinen Weggang, mit einer Ergebung, die ihn erstaunte.
Er hatte ein paar Sachen gepackt, das meiste jedoch ließ er zurück. Er wusste noch
nicht, wo er wohnen würde. Zunächst mal in einem Hotel.
    Nur der Universität musste er es noch persönlich mitteilen. Ein bloßer
Brief war in diesem Fall nicht genug. Er vereinbarte ein Treffen mit dem Leiter der Fakultät, und während er durch den
Flur zu dessen Büro ging, dachte er an seine Frau.
    Sie hatte sich ein Kind gewünscht, und sie hatte eins bekommen. Ein schönes
Kind, ein nettes Kind, dem sie die Brust gegeben hatte. Die

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