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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
Vom Netzwerk:
viel enthüllt hatte – sein halbes Leben in
einem Sermon von kaum zwanzig Minuten –, erschien es ihm als das Beste, auch gleich
zu erzählen, dass er das Angebot schon akzeptiert hatte. Warum es noch länger verschweigen?
    »Hättest du das nicht erst mit mir besprechen können?«, hatte Sylvie
gefragt.
    Doch besprechen war nie seine Stärke gewesen. Er glaubte nicht daran:
Besprechungen waren Treffen, deren Teilnehmer vorgaben,
sich für die Meinung des anderen zu interessieren. Doch wie sehr man auch so tat,
die eigene Meinung würde man darum nicht ändern und den anderen letztlich nur verübeln,
dass sie einen zwangen, sich Meinungen anzuhören, die man für unsinnig hielt. An
der Universität hatte er darum die Besprechungen auf ein Minimum zu beschränken
versucht. Doch mit der Zeit musste er zu immer neuen Konferenzen erscheinen, ein
weiterer Grund, warum er dort nur noch wegwollte.
    »Und außerdem«, hatte er schließlich hinzugefügt, »wenn ich hier an der
Uni eine Chance haben will, müsste ich jetzt anfangen, mir ein Netzwerk aufzubauen,
bloß um irgendwann Mitte fünfzig an irgendeinem Lehrstuhl Professor zu werden –
wenn alles gutgeht! Auf diese Ochsentour habe ich keine Lust!«
    »Ich komme nicht mit.« So sagte sie es. Aber vielleicht täuscht ihn auch
seine Erinnerung, und sie hatte gesagt: »Wenn du denkst, dass wir mitkommen, hast
du dich geirrt.« Das war eher ihre Sprache. Und diese Sprache war klar. »Wir«, das
verstand er.
    Er hatte leise erwidert: »Mit einem Kind kann man nicht [140]  so leicht
fortgehen.« Und ebenso leise: dass er überhaupt nicht erwartet hatte, dass sie mitkämen.
Er verschwieg, dass es ihm eigentlich sogar lieber war: allein, in Ruhe seiner Forschung
zu leben. Wer ein taugliches Modell der Wirklichkeit aufstellen will, muss dafür
sorgen, dass die Wirklichkeit selbst, jedenfalls manche Teile davon, ihm nicht allzu
nahe kommen.
    »Wir finden schon eine Lösung«, hatte er gesagt.
    So hatte er es ihr in dem italienischen Restaurant erklärt, während eine
Babysitterin, eine nette, siebzehnjährige Gymnasiastin, auf ihren Sohn von elf Monaten
aufpasste.
    Es gab für alles eine Lösung. Dass manchen Leuten diese Lösungen nicht
gefielen, stand auf einem anderen Blatt.
    »Und Jonathan?«, hatte seine Frau gefragt. »Hast du auch an ihn gedacht?«
    »Natürlich«, hatte er geantwortet. »Ich denke die ganze Zeit nur an ihn.
Schau, forschen kann man überall. Forschung ist heutzutage mobil. Wo ich bin, ist
die Forschung. Bücher kann man überallhin mitnehmen. Du und Jonathan, ihr seid leider
nicht so mobil. Aber die George Mason University bietet mir das, was sie mir in
Rotterdam schon seit Jahren verweigern: Zeit zum Forschen.«
    Sie hatte ihn angesehen. Nicht voller Abscheu, eher wie jemand, vor dessen
Augen etwas Hässliches geschieht. Ein Unfall zum Beispiel. »Du entziehst dich also
deiner Familie?«, hatte sie erwidert. »Du fliehst?«
    Darauf er: »Ein Wirtschaftswissenschaftler mit Ehrgeiz hat andere Prioritäten. – Wollen wir noch
ein Dessert nehmen?«
    Sie hatte geistesabwesend genickt.
    [141]  Wirtschaftswissenschaft war keine Flucht, Wirtschaftswissenschaft war die Konfrontation mit der Realität, etwas, das man vom
größten Teil des Familienlebens nicht sagen konnte. Da verwöhnte man einander, sang
Schlaflieder und las Märchen vor, da backte man Pfannkuchen.
    Doch irgendwie hatte der bohrende Zweifel an dem Abend begonnen. Wie
oft er sich auch sagte, ein Mensch müsse sich für sein
eigenes Leben und seine Pläne entscheiden, man dürfe von niemandem verlangen, diesen
Ehrgeiz seinen Eltern oder Kindern zu opfern – er bekam das Gefühl, nicht zu genügen.
    Von Liebe hatte er auch noch gesprochen, die nicht erstickend sein durfte,
von Webfehlern in der Kultur, Besitzansprüchen, die zwischen ihnen keine Rolle spielten,
doch Sylvie hatte ihm kaum noch zugehört.
    »Und Verantwortung, spielt die bei uns auch
keine Rolle?«
    »Doch, natürlich«, hatte er geantwortet, »aber Verantwortung ist genauso
mobil wie Rohstoffe und Geld. In den USA hört meine Verantwortung nicht auf. Durch die Distanz
werde ich sie nur umso genauer erkennen und meiner Pflicht
noch besser gerecht werden. Außerdem widme ich mich, wie kaltschnäuzig sich das
möglicherweise auch anhört, lieber voll und ganz meiner Forschung. Schon als Kind
war mir klar, dass wir die Wirklichkeit nicht sich selbst überlassen dürfen. Es
muss Menschen geben, die sich um sie kümmern. Du

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