Mit Haut und Haaren
Bewerbungen losgeschickt. Er hatte
sich nicht die Mühe gemacht, mit jemandem darüber zu sprechen. Der Entschluss war
ihm nicht schwergefallen, leichter jedenfalls, als er gedacht hatte. Weggehen war
wie eine Kneipe verlassen. Man zahlte die Rechnung, nahm die Jacke vom Haken und
ging. Die Fakultät, an der er seit Jahren unterrichtete, kam ihm ohnehin wie ein
sinkendes Schiff vor. Das Schiff
rechtzeitig zu verlassen war eine Frage des Selbstrespekts.
Als er das Angebot der George Mason University akzeptiert hatte, musste
er nur noch seine Frau informieren. Er beschloss, das bei einem Essen im Restaurant
zu tun. Erst sprach er in allgemeinen Worten vom Ehrgeiz, nicht einmal seinem eigenen,
dem Ehrgeiz von anderen, von Kollegen und Studenten, der Jugend und dem seiner Eltern,
und dann machte er noch ein paar Bemerkungen zum verschlechterten universitären
Klima in den Niederlanden. »Und das Schlimmste steht uns noch bevor«, hatte er hinzugefügt.
So weit war er bis zum Ende der Vorspeise gekommen.
Beim Hauptgericht war er nach und nach persönlicher geworden, hatte von
seiner Fakultät gesprochen, seinen unmittelbaren Kollegen, den Professoren, den [137] Umstrukturierungen, die in Wirklichkeit nichts anderes als Einsparungen waren,
den Studenten, der Engstirnigkeit, die sich wie Mehltau über die gesamte Universitätslandschaft legte, und vor allem von seiner Forschung, mit den Worten:
»Für die schlägt mein Herz.«
Sylvie hatte nur genickt und geantwortet, dass die Jakobsmuscheln heute
sehr gut seien. Sie wusste natürlich seit langem, wofür sein Herz schlug.
Erstsemesterstudenten sagte er immer: »Viele von euch denken, Wirtschaftswissenschaftler arbeiten für
Banken oder gehen in die Politik. Aber das sind bloß Manager.« Er sprach das Wort
aus wie manche Leute, wenn sie vom »Antichristen« reden. »Wenn ihr vorhabt, Manager
zu werden, seid ihr hier falsch. Wirtschaftswissenschaftler arbeiten in der Forschung, Wissenschaftler bleiben an der Universität. Sie entwerfen Modelle der
Wirklichkeit. Was ist das denn, die Realität? Ihr!« Er richtete den Finger auf die
drei- oder vierhundert Studenten, die auf den Bänken vor ihm saßen. »Ihr alle, ihr
seid Konsumenten. Und wir Ökonomen entwerfen Modelle von euch, um euer Verhalten
besser zu verstehen, besser zu prognostizieren. Nicht um euch zu behüten. Das können
wir nicht und wollen wir nicht, das dürfen wir auch gar nicht wollen. Das müsst
ihr selbst tun. Denn ob ihr’s glaubt oder nicht: Ihr habt einen freien Willen.«
Mehr und mehr hatte er akzeptiert, dass Wissensvermittlung eine Form
von Theater ist. Eine Meinung, die ihn nicht überall gleichermaßen beliebt machte,
doch das interessierte ihn wenig. Prinzipielle Bedenken minderten nur den Erfolg.
Und was von weitem wie prinzipielle Bedenken aussah, war bei näherer Betrachtung
nichts als Aberglaube. [138] Was nicht heißen sollte, dass ihm sein eigenes Theater
im Laufe der Zeit nicht selbst immer mehr gegen den Strich ging. Und nicht nur ihm.
Einmal, nach einer Vorlesung, hatte ein Student ihn abgepasst und zu
ihm gesagt: »Meneer Oberstein, ich will Ihnen keine Vorschriften machen, aber diesmal haben Sie endgültig übertrieben.«
Seither wollte er die Lehrverpflichtung loswerden
wie andere Leute die Krätze.
Seine Frau wusste das – vermutete er. Sie lebte mit ihm zusammen, sie
sollte wissen, was ihn beschäftigte. Er brauchte es ihr
nicht lang und breit zu erklären. Sie kannte seine Meinungen und Vorlieben, die
Namen von Kollegen, die er nicht leiden konnte. Trotzdem fasste er alles an dem
Abend im Restaurant noch einmal zusammen, und als er fertig war, dramatisch seinen
Ekel gegen den real existierenden Lehrbetrieb in Worte gefasst hatte – im Grunde
war auch das Gespräch mit seiner Frau eine Art Wissensvermittlung –, eröffnete er ihr, dass er ein Angebot von der George Mason University
in Fairfax, USA , bekommen hatte. Ein Angebot, das
er nicht ablehnen konnte, weil er sich dort nicht mehr so in der Lehre aufreiben
müsse, zwei Vorlesungen pro Semester, kleine Gruppen, keine Einführungsveranstaltungen.
In diesem Moment schob sie den Teller von sich weg, obwohl sie überhaupt
noch nicht zu Ende gegessen hatte.
Die Verzweiflung, die ihn manchmal am Anfang des Studienjahrs überfiel, wenn er vor ein paar hundert Erstsemestern stand, behielt
er für sich. Eine Verzweiflung, die manchmal für ihn schon bedenklich an Geistesverwirrung
grenzte.
[139] Und wo er ihr schon so
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