Mit Haut und Haaren
rührend. Davon musste
ich weinen.«
»Oh«, sagt Violet. »Weil sein Sexualleben wieder in Ordnung war oder
weil du das gemacht hast?«
»Und dann sagte er noch, ich hätte ihm über den Krebs hinweggeholfen.«
»Jemandem über den Krebs hinweghelfen finde
ich eine größere Leistung als sein Sexualleben retten. Ohne Sex kann man prima leben,
mit Krebs ist das einigermaßen schwierig.«
Violet merkt, dass sie schlechte Laune bekommt. Warum kann sie nicht
großzügiger sein? Warum nicht denken: So ist Mirjam nun mal. Sie hat viele gute
Eigenschaften. Im Moment fällt Violet zwar keine ein,
aber das liegt daran, dass ihr andere Gedanken durch den Kopf gehen.
Mirjam erwidert: »Die zwei Sachen kannst du nicht miteinander vergleichen.
Natürlich hat seine Frau ihn während der Krankheit auch unterstützt. Das will ich
nicht leugnen. Aber einmal hat er gesagt, dass er erst durch mich wieder mit seiner
Frau ins Bett gehen konnte. Zwischen den beiden lief schon seit Jahren nichts mehr.«
»Und wie fandest du das?« Mirjam macht sie immer ein bisschen kribbelig,
aber heute ist es schlimmer als sonst.
»Dass er durch mich wieder mit seiner Frau schlafen kann?«, fragt Mirjam.
»Ja, zuerst war das natürlich kein so angenehmer Gedanke. Ich hab die Frau mal kennengelernt.«
»Ich auch«, sagt Violet. Fast automatisch greift
sie in die Schale mit Nüssen, als würden Nüsse beruhigen. Doch die Schale
ist leer.
[169] »Seine Frau ist ziemlich alt. Ich meine: echt alt, so Typ Rentnerin. Erst dachte ich, Herrgott, dass er’s mit der noch kann! Was
bin ich dann für ihn, wenn’s mit ihr auch geht? Verstehst du? Aber dann hat er mir
erklärt, dass er immer an mich denkt, wenn er mit seiner Frau schläft. Und seitdem fand ich es nicht mehr so schlimm. Dann ist
es doch, als ob er’s mit mir machen würde? Im Bett mit ihr, das ist für ihn nur
mechanisch, weil er sich wegen seines Glaubens nicht von ihr scheiden lassen kann.«
Es ist wirklich ein schöner Abend. Wahrscheinlich der letzte des Jahres,
an dem man noch ohne Jacke draußen sitzen kann, der letzte, an dem die Wirte überhaupt
noch Stühle hinausstellen.
»Ich wollte dir auch was erzählen«, sagt Violet.
»Wie man’s auch dreht und wendet, ich hab sein Sexualleben gerettet,
und das macht mich stolz«, sagt Mirjam nachdenklich.
Violet nickt.
»Und weißt du«, fährt Mirjam fort, »oft bleibt
er nach dem Sex noch einen Moment liegen, und dann korrigiert er Examensarbeiten.
Das find ich so romantisch. Dann kraul ich ihm immer
ein bisschen den Rücken, während er seine Arbeiten korrigiert.«
»Romantisch«, sagt Violet. Sie will noch ein Glas Wein bestellen, aber
der Kellner lässt sich nicht blicken. Zum ersten Mal, seit sie Mirjam kennt, fragt
sie sich, ob ihre Freundin noch völlig normal ist.
»Und er kriegt einen Enkel.«
»Er wird Opa?«
»Er kriegt einen Enkel.«
[170] »Du hast eine Beziehung mit einem Mann, der drauf und dran ist, Opa
zu werden?«
»›Drauf und dran‹, das klingt, als bastele er sich seinen Enkel zusammen
– wie in einer Fabrik. Nein, es geht ganz von allein. Seine älteste Tochter ist
schwanger. Herrgott noch mal, Violet, warum musst du alles immer so negativ sehen?
Ein Mensch darf doch einen Enkel bekommen? So merkwürdig ist das nicht.«
Violet zuckt mit den Schultern.
»Ich bin mit einem anderen Mann im Bett gewesen«, sagt sie.
»Womit?«
»Mit einem anderen Mann«, sagt Violet mit Nachdruck.
»Nur so drin rumgelegen?«
Mirjam redet so laut, dass die halbe Terrasse es hört.
»Nein, nicht nur drin rumgelegen«, sagt Violet.
»Natürlich nicht.«
»Und warum erzählst du mir das erst jetzt?«
Weil du Trulla mir keine Gelegenheit dazu gegeben hast, würde sie gerne
sagen, doch stattdessen antwortet sie freundlich: »Es ist eine neuere Entwicklung.«
»Neuere Entwicklung. Aha, und jetzt?«, fragt Mirjam.
»Keine Ahnung«, sagt Violet. »Aber ich glaube nicht, dass ich weitermache.«
»Womit?«
»Mit dem anderen Mann. Mit ihm ins Bett zu gehen.«
Mirjam beginnt zu flüstern. »Alle Spuren verwischen!
Das sagt er auch immer zu mir: ›Unser Geheimnis lebt vom Spurenverwischen. Für einen
Dozenten der Kunstgeschichte hört sich das vielleicht komisch an, aber ich will [171] meiner Frau nicht weh tun.‹ Und dann sag ich zu ihm: ›Das kann ich verstehen.
Ich will deiner Frau auch nicht weh tun, ich hab nichts gegen sie.‹ Das musst du
jetzt auch machen, Violet, Spuren verwischen, glaub mir.«
»Ich hab
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