Mit Haut und Haaren
Rad
anschließt. Sie wirkt ungepflegt, doch das ist nur Show,
ein Look, wie um zu zeigen, dass sie Kosmetik nicht nötig hat. Violet weiß es besser.
»Wie geht’s deinem Liebhaber?«, fragt sie, als Mirjam sich neben sie
gesetzt und ein Glas Wein bestellt hat. Eigentlich möchte sie selbst etwas erzählen,
aber sie findet es unhöflich, sofort davon anzufangen.
Sie will eine gute Freundin sein.
Mirjam greift in eine Schale mit Nüssen. Sie
kaut rhythmisch und konzentriert. »Gut«, sagt sie mit halbvollem Mund. »Grad hat
er wieder eine Nachuntersuchung gehabt, und sie haben nichts mehr gefunden. Da ist
er zu mir gekommen, und wir haben das gefeiert.«
»Toll!«, sagt Violet.
»Toll« ist vielleicht nicht die angemessenste Bemerkung zum Verschwinden
von Krebs, doch im Moment fällt ihr nichts Besseres ein. »Das freut mich aber« ist
womöglich noch schlimmer.
Sie selbst hat Mirjams Liebhaber auch als Dozenten gehabt. Er gab Kunstgeschichte.
Soweit sie weiß, tut er das noch immer, trotz seiner Krankheit. Die Kunstgeschichte
ist sein Leben, Frau und Geliebte sind Nebensache. Wenn sie sich richtig an Mirjams
Geschichten erinnert, betrachtet er seine zwei Kinder als unwürdige Untersuchungsgegenstände,
weshalb sie mit wenig Beachtung zufrieden sein müssen.
[166] »Wie alt ist er jetzt eigentlich?«, fragt sie. »Neunundfünfzig? Sechzig?«
Sie denkt an seine Seminare, die waren interessant. Er war einer der besseren Dozenten,
doch das ist noch kein Grund, gleich mit jemandem in die Kiste zu springen.
»Einundsechzig«, sagt Mirjam. »Weißt du, es hört sich vielleicht komisch
an, aber sein einziges Problem ist der Hintern.«
»Was ist denn so komisch an seinem Hintern?«
Violet nimmt auch ein paar Nüsse. Sie weiß nicht, ob sie den Hintern
von Mirjams Geliebtem diskutieren will, doch das ist eben Freundschaft: Manchmal bespricht man auch den Hintern des Geliebten der
Freundin.
»Na, davon ist nicht mehr viel übrig«, sagt Mirjam. »Er hängt, er ist
total eingefallen, wenn du’s genau wissen willst. Aber von vorn ist er noch prima
in Schuss.«
»Eigentlich will ich’s nicht so genau wissen«, antwortet Violet.
Offensichtlich hört Mirjam nicht zu. »Manchmal
fragen mich Leute: ›Wie ist es eigentlich, mit so einem alten Mann zusammen zu sein?‹,
und dann sage ich immer: ›Von vorn ist er noch prima in Schuss.‹ Ja, er hat einen
kleinen Bauch, aber wer hat das nicht? Der Hintern, das ist ’ne andre Geschichte.
Das Verrückte ist, wenn man ihn einmal nackt gesehen hat, sieht man’s auch durch
die Hose, den Hintern meine ich: der schlaffe, hängende
Hintern von einem alten Mann.«
Mirjam arbeitet für die Stadt. Sie entwirft Spielplätze,
kleine Parks und andere Grünanlagen.
»Dann schaust du ihm eben nicht auf den Hintern«, schlägt Violet vor.
[167] »Das tu ich auch so wenig wie möglich. Aber dann sag ich mir: Der
Mann hat Krebs gehabt. Der Mann war fast tot. Dann kann man ja schlecht zu ihm sagen:
›Tu mal was für deinen Hintern.‹ Er konnte fast nichts mehr, kaum noch Sex haben,
so jemanden kann man nicht ins Fitnessstudio schicken. Also zwinge ich mich, seinen
Hintern anzusehen, und sage mir: Er sieht gut aus.«
Violet lässt den Blick über die Amstel schweifen. Zwei Ruderboote gleiten
vorbei. Sie hat auch mal gerudert, aber das ist lange her. Sie hat keine Zeit mehr
dazu.
»Aber bloß, weil jemand hätte sterben können, muss man doch nicht alles
schön an ihm finden?«
»Doch«, sagt Mirjam. »Du hast noch nie mit wem im Bett gelegen, der dachte,
dass er nur noch ein paar Tage zu leben hat, der in dich eindrang, auf einmal völlig
erstarrte und zu dir sagte: ›Vielleicht ist das heute das letzte Mal, vielleicht
bin ich nächste Woche hinüber.‹«
»Nein, das hab ich noch nie erlebt«, sagt Violet. »Gott sei Dank nicht.«
Das Schälchen mit Nüssen ist fast leer.
»Es stimmt schon«, meint Mirjam, »dass ein Mann in seinem Alter im Bett
manchmal mehr verspricht, als er halten kann. Aber das wird durch andere Dinge wettgemacht.«
»Wodurch denn?«, fragt Violet.
»Durch Rührung zum Beispiel.«
Mirjam sagt das, als sei Violet dumm, dass sie nicht von selbst darauf
gekommen ist. Rührung. Natürlich! Als liege es auf der Hand: Wo Sex in die langsamere
Gangart wechselt, lugt hinterm Bettpfosten Rührung hervor.
»Letztes Mal zum Beispiel, als er bei mir war, hat er [168] gesagt: ›Weißt
du, Mirjam, du hast mein Sexualleben gerettet.‹ Das fand ich so
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