Mit Haut und Haaren
es ihm schon erzählt.«
»Roland?«
»Ja.«
»Und was hat er gesagt?«
»Nicht viel.«
»Nicht viel?«
»Nein. Er wollte die Details wissen. Er wollte wissen, wie der andere
es mir mit der Hand gemacht hat.«
»Ist er nicht völlig ausgerastet?«
»Nein, ich glaub nicht, er war so wie immer. Nicht ausgerastet.«
»Also ich würde ausrasten«, sagt Mirjam.
»Es hat ihn angemacht.«
»Angemacht?«
»Ich glaube, er fand es erregend.« Violet sieht den Kellner. »Möchtest
du noch einen Wein?«, fragt sie ihre Freundin.
Mirjam versinkt in Gedanken. »Das würde ich eigentlich auch gern mal,
mit einem anderen Mann. Aber dann denke ich mir: Mein Leben ist so schon kompliziert
genug. Und ich will ihm nicht weh tun. Ich tu schon so vielen Leuten weh, ohne es
zu wollen – wenn die wüssten! Seiner Frau, seinen Kindern, und jetzt bald seinem
Enkel. Ich will nicht noch mehr Leuten weh tun.«
»Möchtest du noch einen Wein«, fragt Violet zum zweiten Mal.
[172] »Okay, aber nur noch einen. Bei mir an der Arbeit ist momentan die
Hölle los. Ich will nicht zu spät ins Bett.«
Violet bestellt zwei Gläser Wein.
»Ich hab die Austauschbarkeit nicht mehr ertragen, das hohle Gefühl,
das Roland mir immer vermittelt«, sagt Violet. »Wenn ich da war, war’s gut, aber
wenn ich nicht da war, war es auch in Ordnung.«
Mirjam schaut sie verdutzt an. Sie weiß offenbar
nicht, was sie sagen soll.
»Wie fandest du eigentlich das Buch von Murakami, das ich dir geschenkt
habe?«
»Ich lese es gerade. Es ist ziemlich dick. Mirjam, ich rede davon, dass
ich mich austauschbar fühle. Dass es egal ist, ob ich da bin oder nicht.«
Sie möchte nach Hause. Verzweiflung überkommt sie. Beide folgen mit dem
Blick einer Frau, die mit einem schlafenden Kind auf dem Arm vorbeiläuft.
Sie will ihren Wein nicht mehr trinken. Sie möchte nach Hause, sich aufs
Bett werfen und lang und laut heulen.
»Wie auch immer«, sagt Violet, »an Sex kommt man überall ran. Nützlich
zu wissen.« Wie ein Bauer, der sagt: »Voriges Jahr war die Ernte verregnet, aber
dieses Jahr wird sie reichlich.«
[173] 4
Sylvie hat den Tisch gedeckt, ein altes Modell von Ikea, das
schon seit Jahren nicht mehr verkauft wird. Sie hat die
Rosen nachgeschnitten und in frisches Wasser gestellt. In Lysanders kleiner Küche
hat sie gekocht, Brathähnchen mit Reis, vor allem, weil Jonathan Hähnchen gern mag.
Ihr Sohn hat ihr beim Schneiden der Tomaten geholfen. Das kann er schon
gut. Vor ein paar Wochen hat sie seinem Vater stolz erzählt, wie hilfreich Jonathan
in der Küche ist. Sowie er die Tomaten fertiggeschnitten hatte, spielte er mit seinen
Playmobil-Figuren weiter, die er von zu Haus mitgebracht hatte.
Lysander liegt immer noch auf dem Bett im abgedunkelten Schlafzimmer.
Sie ist zu ihm gegangen, hat ihn angesprochen, doch keinerlei Reaktion. Sie hat
ihm gedroht, doch als auch das keinen Erfolg brachte, hat sie in der Küche angefangen
zu kochen.
Auch Jonathan war bei Lysander und muss gefragt haben: »Willst du mit
mir spielen?« Vermutlich war Schweigen die Antwort. Er kam zu ihr in die Küche und
sagte: »In Lysanders Zimmer stinkt’s, Mama!«
Wenn sie bei Lysander kocht, bringt sie die Utensilien meist von zu Hause
mit, denn Lysander hat nur das Allernötigste. Keine Reibe zum Beispiel, keine Knoblauchpresse.
Sie holt die Presse aus ihrer Tasche und beginnt, Knoblauch für den Salat
zu zerquetschen.
Neben ihr auf dem Boden steht Jonathans [174] Kaninchenrucksack. Eben hat
sie hineingeschaut. Ihr Sohn hat die Birne nicht angerührt.
»Warum hast du die Birne nicht gegessen?«, fragt sie.
Sie versteht nicht, warum die Lehrerin auf so was nicht achtet.
Keinerlei Reaktion.
»Antworte mir«, sagt sie, während sie weiter den Knoblauch zerquetscht,
»du bist nicht Lysander.«
Sie bringt die Servierplatte mit dem Hähnchen ins Esszimmer, dann den
Topf mit dem Reis. Dann tut sie das Essen auf die Teller, setzt sich und sagt: »Jonathan,
hol Lysander.«
Das Kind geht in Lysanders Zimmer, sie wartet. Sie schaut auf die Teller,
denkt an die Patienten, die sie heute behandelt hat, sieht deren Zähne vor sich.
Jonathan ist aus dem Schlafzimmer zurück. »Er kommt nicht«, sagt er.
»Er will schlafen.«
»Gut«, sagt Sylvie, »dann essen wir eben
allein.«
Sie führt die Gabel zum Mund. Sie schmeckt nichts, doch sie isst weiter.
»Setz dich«, ruft sie
Jonathan zu. »Und iss!«
Ihr Sohn steht vor dem Tisch und träumt, wie heute Morgen. So wie
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