Mit Haut und Haaren
fast
jeden Morgen, sollte sie sagen. Wenn es nach ihm ginge, bräuchte die Schule erst
um elf Uhr anzufangen.
Endlich setzt er sich hin, sie hat das Hähnchen für ihn geschnitten,
doch sie schaut das Kind nicht an, ihr Blick schweift über
den Reis, die knusprige Haut ihres Hähnchens und den Salat mit dem Knoblauch, und
bei diesem Anblick beginnt sie zu weinen. Sie isst weiter, doch die Tränen hören
nicht auf.
[175] Auf einem Stück Hähnchen kauend, wendet sie den Kopf ab. Sie versucht,
sich auf den Geschmack des Essens zu konzentrieren, doch ohne Erfolg.
»Warum weinst du, Mama?«, fragt Jonathan.
Mit vollem Mund steht sie auf, geht Richtung Schlafzimmer, öffnet die Tür und ruft: »Du kommst
jetzt zum Essen! Raus aus dem Bett! Ich hab gearbeitet und gekocht. Und du machst
nichts. Alles hat seine Grenzen. Depressionen sind keine Entschuldigung. Hörst du?
Depressionen sind keine Entschuldigung!«
Doch der Mann im Bett rührt sich nicht, und weil es so dunkel im Zimmer
ist, sieht es einen Moment lang so aus, als sei das Bett leer.
»Ich gebe dir eine letzte Chance!«, ruft sie.
»Du kommst jetzt an den Tisch – oder ich gehe. So läuft das
nicht, das kannst du nicht machen, schon wegen Jonathan.«
Sie eilt ins Wohnzimmer zurück und hebt ihren Sohn vom Stuhl. »Komm,
los, wir gehen«, sagt sie.
In der Küche steckt sie den Kaninchenrucksack und die Knoblauchpresse
in ihre Einkaufstasche. Sie sucht die Playmobil-Figuren zusammen, die überall auf
dem Boden herumliegen.
»Und das Essen, Mama?«, fragt Jonathan.
»Nimm dir eine Hähnchenkeule mit«, sagt sie.
Den Rest des Essens lässt sie auf dem Tisch. Soll er sich drum kümmern.
Oder die Mäuse.
Sie laufen die Grachten entlang. Jonathan schweigt, die eine Hand fest
in der seiner Mutter, die andere umklammert die Hähnchenkeule.
Es dauert mindestens zehn Minuten, bis sie ein Taxi [176] bekommen. Wie
in Trance nennt Sylvie die Adresse ihrer Praxis in Buitenveldert. Sie will sich
noch berichtigen, doch es ist schon zu spät. Macht nichts, auch gut.
Jonathan sagt nichts. Er schaut aus dem Fenster. Einen Moment meint man,
er sei eingeschlafen, doch kurz vor der Ankunft öffnet er die Augen und fragt: »Und was machen wir jetzt?«
Auf dem Fußabtreter vor der Praxis liegt Reklame. Morgen wird die Helferin
sie aufheben und wegwerfen.
Um diese Uhrzeit war sie schon lange nicht mehr hier. Vor einigen Jahren
hat ein Patient ihr die Praxis zu einem Freundschaftspreis
gemalert. Abends war sie mit ein paar Dosen Bier zur Erfrischung vorbeigekommen
und natürlich auch, um die Fortschritte zu begutachten.
Es fühlt sich merkwürdig an, so spät am Abend noch einmal herzukommen.
Ohne das Licht anzuschalten, setzt sie sich mit Jonathan ins Wartezimmer.
Sie starrt auf den Tisch mit den Zeitschriften.
Sylvie rasen Gedanken durch den Kopf, doch schon im nächsten Moment sind
sie wieder vergessen. So wie man träumen kann, ohne sich zu erinnern, und nach dem
Erwachen nur noch weiß, dass man geträumt hat.
Durch das Fenster scheint das Licht einer Straßenlaterne herein.
In der Einkaufstasche sucht Sylvie nach ihrem Terminkalender, findet aber nur die Knoblauchpresse und die Playmobil-Figuren.
Mechanisch beginnt sie, die Presse zu öffnen
und wieder zu schließen, als wollte sie Knoblauch zerquetschen.
[177] »Das ist doch dein Wartezimmer, Mama?«, fragt Jonathan.
»Ja«, sagt sie.
Immer noch macht ihre Hand die Presse auf und zu. Das beruhigt sie.
»Warum warten wir hier?«, fragt Jonathan. Er hat seine Hand auf ihren
Oberschenkel gelegt. In der anderen hält er noch immer die Keule.
Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Warum warteten sie hier? Warum
dies? Warum das? Alles muss man immer erklären, alles wird ständig in Frage gestellt.
»Weil wir dabei sind, verrückt zu werden«, sagt Sylvie.
»Okay, Mama«, meint Jonathan.
5
Von Newark hat Roland den Zug nach Washington D.C. genommen. Ab Union Station muss er mit der U-Bahn weiter
Richtung Fairfax. In DC haben die U-Bahnen Farben,
keine Buchstaben oder Nummern. Erst muss er die rote Linie nehmen, dann auf Orange
umsteigen, bis zur Endhaltestelle Vienna. Jedes Mal, wenn er diese Strecke fährt,
denkt er: Endstation Wien. Es hat etwas Romantisches und Beruhigendes. Als sei Europa
um die Ecke.
Ab Vienna muss er ein Taxi nehmen. Ein Auto hat er nicht, einen Führerschein
ebenso wenig.
Obwohl er schon gut drei Jahre an der George Mason [178] University lehrt,
wohnt er noch immer in
Weitere Kostenlose Bücher