Mit Haut und Haaren
an Bergstrom denken, Paul Bergstrom, einen Kollegen von
der George Mason, der bei jedem Wetter am liebsten in kurzen Hosen herumläuft. Einmal hat er Bergstrom gefragt, was die Studenten von
seinen nackten [181] Beinen hielten, worauf der ihn fixierte
und sagte: »Wissen verleiht Autorität, nicht die Kleidung.« Offenbar hielt Kollege Bergstrom ihn für einen ordinären Blender,
weil er stets lange Hosen und an der Uni oft ein Oberhemd
trug.
Kurz vor Vienna beschließt Oberstein, Violet anzurufen. In den Niederlanden
ist es halb zwei. Vielleicht ist sie noch wach.
Violet nimmt ab. Sie sagt, sie könne nicht schlafen.
»Wo bist du?«, fragt sie.
»In der U-Bahn«, antwortet er. »Fast zu Hause.«
»Zu Hause!« Er hört ein verächtliches Schnalzen. »In deinem Hotel, meinst
du.«
»Das Best Western in Fairfax ist mein Zuhause.
Ob es dir passt oder nicht, es ist nun mal so: Ich wohne in einem Best Western.«
Violet hatte er über ihren Exfreund kennengelernt, dessen Diplomarbeit
er in Rotterdam betreute. Seinen Weggang in die USA hatte er damals schon angekündigt, er war noch mit der Mutter seines Sohnes zusammen,
doch um den Weggang weniger schmerzhaft zu machen – oder
gerade definitiv –, hatte er sich in die Freundin seines
Studenten verliebt.
Und sie sich in ihn.
Zum Glück war die Beziehung zwischen Violet und dem Studenten ohnehin
bereits lose. Er hatte sie nicht auseinandergebracht.
In den ersten Wochen hatte er mit niemandem darüber geredet. Obwohl er
formell nichts falsch gemacht hatte – den Verhaltenskodex der Universität kannte
er aus dem Effeff –, fand
er es doch eine heikle Angelegenheit. [182] Zunächst hatte er als Einziger Linde davon
erzählt. Linde befand sich schon länger im Bann des deutschen Theaters, wirklich
ernst nehmen konnte er sie seitdem nicht mehr, doch sie hielten noch immer Kontakt.
Als er Linde in einer lauten Kneipe ausführlich alles geschildert hatte,
hatte die ihn mitleidig angesehen. Wie einen kranken Hund.
Sie trug eine große, für seinen Geschmack etwas exzentrische Kette, wie
es sich für eine Theaterwissenschaftlerin offensichtlich gehörte. Sie hatte gesagt: »Es geht mich nichts
an, Roland, aber wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«
»Auf einer Party. Der Abschlussparty meines Studenten. Ich fühlte mich
verpflichtet zu kommen. Ich hatte seine Diplomarbeit
betreut, ziemlich intensiv. Ich mag keine Partys.«
»Und darum bist du mit seiner Freundin durchgebrannt?«
»Durchgebrannt ist nicht das richtige Wort. Sie waren schon so gut wie
auseinander. Aus Versehen hatte sie ihm Rotwein über sein weißes Hemd geschüttet.
Und er ist völlig ausgerastet. Darum klagte sie mir ihr Leid, und ich habe versucht,
sie zu beruhigen. Ich denke, ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen. Ich habe
das Ende der Beziehung höchstens etwas beschleunigt, aber dafür werden mir alle
mal dankbar sein. Wir sahen uns, da auf der Party, wir kamen ins Gespräch. Wir verabredeten,
uns wiederzusehen. Es funkte. Doch das kam alles später. Damals hatte ich nur versucht,
sie zu beruhigen.«
Er fragte sich, ob er sich selbst Glauben schenkte, und [183] kam zu dem
Schluss, dass dem so war. Auch sein ehemaliger Student würde ihm einmal danken.
Vielleicht würden sie eines Tages einen Wein zusammen trinken und Neuigkeiten über
ihr Fach und Violet austauschen.
»Es funkte?«, fragte Linde.
»Es funkte«, bestätigte Roland. »Auch wenn sie Partys mag und ich, wie
du weißt, nicht.«
»Und jetzt willst du wissen, was ich davon
halte?«
»Nein, ich wollte’s dir nur erzählen.«
»Und deine Frau und dein Kind?«
»Meine Ehe ist so gut wie bankrott. Wie es aussieht, unterliegt auch
die Ehe Konjunkturzyklen.«
Wieder hatte Linde ihn angesehen, auf dieselbe Art wie eben: wie einen
kranken Hund kurz vor dem Einschläfern. Tiere erlöst man schneller aus ihrem Leiden
als Menschen. Fleischfresser betrachten dies womöglich als einen Akt der Barmherzigkeit.
»Bist du unglücklich, Roland? Muss ich mir
Sorgen machen?«
»Wenn ich mich wie du mit dem Bild der Frau in der deutschen Nachkriegsdramatik
hätte beschäftigen müssen, würde ich mich elend fühlen,
aber mein Beruf ist die Wissenschaft, und schon allein
darum bin ich glücklich.«
Als er in die USA gezogen war, hatte sie
ihm weiter mit ziemlicher Regelmäßigkeit Bücher geschickt. Benjamin, Botho Strauß,
Friedell. Bücher, die er nicht las – oder nur aus Höflichkeit, weil auch Höflichkeit
eine Frage
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