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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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der Disziplin ist.
    Kurze Zeit nach dem Gespräch mit Linde hatte er seinen Schreibtisch daheim
leer geräumt, war über seinen [184]  Schatten gesprungen und hatte seiner Frau gestanden,
dass sein Aufbruch in die USA für ihn mit einer neuen
Beziehung einherging.
    »Aber es hat nichts weiter zu bedeuten«, hatte er noch hinzugefügt, um
Sylvie zu beruhigen.
    Mit seinem Rollkoffer geht er den U-Bahnsteig
der Endstation Vienna entlang, nimmt den Fahrstuhl nach oben und biegt am Parkhaus
rechts ab. Kein Taxi zu sehen. Er wird sich per Handy eins rufen müssen. Das ist
der große Nachteil von Fairfax: Ohne Auto kommt man nirgendwo hin.
    »Violet«, sagt er, »bist du noch dran?«
    »Ja«, sagt sie, »ich bin noch dran, ich liege im Bett.«
    »Und mit wem?«
    »Mit Meneer Bär. Muss ich mich jetzt für den Rest meines Lebens damit
aufziehen lassen?«
    Fairfax ist wie ausgestorben. Die paar Leute, die zusammen mit ihm in
der U-Bahn gesessen haben, sind längst in ihre Autos gestiegen und weg.
    Er steht als Einziger noch am Eingang zur U-Bahn.
    Sie fragt: »Macht es dir etwas aus?«
    »Was passiert ist? Nein.«
    Stört es ihn? Er weiß es nicht. In manchen Momenten schon, in anderen
nicht, also wird seine Antwort wohl stimmen.
    »Überhaupt nicht?«
    »Mich stört nur, dass du ein Geheimnis vor mir gehabt hast.«
    Um ihn herum ist es so still, dass seine Stimme [185]  unangenehm laut klingt.
Im Hintergrund hört man das Rauschen der Autobahn nach D.C .
    »Hätte ich es dir etwa vorher erzählen sollen?«
    »Ja.«
    Sie lacht. Aber offenbar nicht, weil sie es
lustig findet. Es ist ein höhnisches Lachen.
    Er hört Schritte, dreht sich um, doch er sieht niemanden. Nicht, dass
er sich hier nicht sicher fühlen würde, aber trotzdem. Nach Einbruch der Dunkelheit
kriechen die Verbrecher aus ihren Löchern. In diesen Krisenzeiten ist die Versuchung
größer denn je. Vom Standpunkt des Räubers aus ist er nicht mehr als ein Hindernis
zwischen ihm und dem begehrten Objekt. Wenn dieses Hindernis sich wehrt, muss man
es niederprügeln, und davor hat Roland Oberstein Angst.
    »Vielleicht solltest du es noch einmal tun«, sagt er, »und es mir diesmal
vorher erzählen.«
    »Vorher?«
    »Ja.«
    »Ich soll dir also ankündigen, wenn ich fremdgehen will?«
    »Ja, kurz vorher. Du rufst mich an und sagst: ›Da steht er. Ich denke,
der wird es werden. So und so sieht er aus. Das hat er an. Ich werd ihn verführen.‹«
    Er ist von der Idee hingerissen, für einen Moment vergisst er darüber
die Bedrohung durch den Verbrecher, obwohl er immer noch Schritte hört, wenn er
auch niemanden sieht. Ihre Beziehung ist langweilig geworden, wie alle Beziehungen
es irgendwann werden. Er weiß, dass Ereignislosigkeit auch ungeahnte Vorteile bietet,
er ist nicht dumm, [186]  er ist Wissenschaftler, aber für
Langeweile braucht er keine Beziehung.
    Am anderen Ende der Leitung ist es still.
    Die Schritte könnten auch von einem Serienmörder stammen. Einem Serienmörder,
dem es um die Lust am Töten geht. Mit so einem kann man nicht verhandeln.
    »Willst du noch mehr auf Distanz gehen?«, fragt Violet.
    »Nein. Wieso?«
    »Weil du mich zum Fremdgehen aufforderst.«
    Er hört die Schritte nicht mehr. Natürlich könnte er die Beziehung beenden,
aber das traut er sich nicht. Wovor genau er Angst hat, kann er nicht sagen. Eine
Beziehung beenden kostet Zeit und Energie. Falls er es richtig einschätzt, liebt
er Violet trotz der Langeweile. Vielleicht ja gerade deswegen. Das ist es, was Leute
als »Vertrautheit« bezeichnen: angenehme Ereignislosigkeit. Wenn sein Buch über
die Geschichte der Spekulationsblasen fertig ist, kann er die Beziehung immer noch
beenden. Außerdem ist da natürlich auch noch der Schmerz der anderen, in diesem
Fall der von Violet. Eigener Schmerz ist leicht zu ertragen, bei anderen ist er
ihm unerträglich.
    »Du musst nicht, aber wenn du es mir vorher erzählst, ist es etwas zwischen
uns beiden, etwas, das uns verbindet.«
    »Ich begreif das nicht. Du müsstest es schrecklich finden. Es müsste dich zur Verzweiflung bringen, dich zerreißen.«
    »Nein, nicht, wenn du’s mir vorher erzählst. Wenn du mir sagst: Er ist
siebenunddreißig Jahre, er hat eine Freundin in London, trägt eine rote Krawatte
und hat gerade zu mir gesagt: ›Ich liebe dich.‹«
    »Aber ist das nicht herzlos?«
    [187]  »Nein, das ist …«
    Er sucht einen passenden Ausdruck. Im Grunde ist es eine erotische Phantasie.
Eine zivilisierte Form der Rache

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