Mit Haut und Haaren
Verbindung liegen.
»Ich habe hier meine Stelle«, sagt er schließlich.
»Vielleicht nicht das ganze Jahr, nur jedes Jahr ein [194] Semester. Es
gibt doch noch mehr Professoren, die das so machen, ein Semester hier, eins dort.«
»Ich bin kein Professor. Ich bin Hochschuldozent.«
»Das weiß ich. Aber könntest du nicht darüber nachdenken?«
»Ich denke nach.«
»Ich meine, richtig darüber nachdenken.«
»Das tue ich, ich denke richtig darüber nach.«
Sie setzt sich anders hin, einen Moment scheint es, als würde Jonathan
wach, er öffnet die Augen, schaut sie an und schläft sofort weiter.
»Kommt zuerst her«, sagt Roland schließlich. »Kommt in den Herbstferien,
dann können wir alles besprechen. In aller Ruhe. Vielleicht ist es nur eine Aufwallung.«
»Eine Aufwallung? Was?«
»Das Gefühl, dass du es alleine nicht schaffst.«
»Und muss ich dann wieder in deinem Best Western absteigen, in Fairfax?
Weißt du überhaupt, wo du da gelandet bist? In einem gottverlassenen Nest! Was soll
ich mit Jonathan dort anstellen?«
»Nicht weit vom Hotel gibt es einen Spielplatz.«
»Ach!«
»Und mit der U-Bahn bist du im Nu in Washington.«
»Ich hab kein Interesse an Washington.«
»Dann geht eben in meine Wohnung, nach New York.«
»Das ist keine Wohnung, das sind anderthalb
Zimmer!«
»Es sind große Zimmer.«
»Ich werd drüber nachdenken«, sagt sie. »Auf jeden Fall wäre es für Jonathan
wichtig, dich wiederzusehen. Du fehlst ihm, hab ich den Eindruck. – Hörst du mir
überhaupt zu?«
[195] »Er fehlt mir auch«, antwortet Roland.
»Manchmal frage ich ihn: ›Vermisst du Papa?‹ Dann sagt er: ›Nein.‹ Aber
das glaube ich ihm nicht.«
»Manche Leute haben zum Vermissen kein Talent.«
Sie wirft einen Blick auf ihr Kind. Im Grunde
redet er wenig über seinen Vater. Ganz selten, wenn ein Flugzeug über sie hinwegfliegt, sagt er mal: »Da drin sitzt Papa!«
»Und wenn du wieder hierherkämst, wärst du auch näher bei Violet. Das
wäre doch schön für dich. Für euch. Näher zusammen.«
»Das wäre schon schön«, antwortet er. »Näher zusammen. Ich weiß nur nicht,
ob es auch machbar ist. Ich habe hier eine Stelle, einen Vertrag, ich stecke mitten
in meinem Forschungsprojekt. Dieses Projekt ist mein Leben.«
»Und wir?«
»Ihr seid der Rest.«
»Ich muss Schluss machen. Ich rufe ein Taxi. Ich muss nach Hause.«
»Ja«, sagt er. »Das musst du. Knuddel Jonathan
von mir.«
Sylvie beendet das Gespräch und ruft bei der
Taxizentrale an.
Sie nimmt ihre Tasche, hebt ihren Sohn auf den Arm und geht aus dem Haus,
um auf das Taxi zu warten.
Das Gefühl, langsam verrückt zu werden, ist immer noch da, doch jetzt
hat sie die Hoffnung, dass alles bald wieder unter Kontrolle
ist, alles gut werden wird, wenn sie nur ihren Ex so weit kriegt, zurück in die
Niederlande zu kommen, und sei es nur für ein paar Monate im Jahr. Diese Schlacht
wird sie gewinnen.
[196] 8
Roland Oberstein macht sich bereit für sein Bad. Es ist eine
kleine Wanne, baden zu zweit wäre darin nicht möglich, doch Gäste hat er hier ohnehin
selten.
Er hat vor, einen Artikel zu lesen, mit dem Titel ›Land Relations under
Unbearable Stress. Rwanda Caught in the Malthusian Trap‹ von Catherine André und
Jean-Philippe Platteau. Der Artikel im Journal of Economic Behavior stammt aus dem Jahr 1998. Er hat ihn kopieren lassen.
Menschen haben die Neigung, das Unmoralische mit dem Irrationalen zu
verwechseln und jeden Völkermord als irrational abzutun, während Völkermord oft durchaus eine rationale, wenn auch unmoralische Antwort
auf ein als bedrohend empfundenes wirtschaftliches Problem
ist.
Er gießt Schaumbad ins Wasser, zieht sich aus und legt die Kleidung aufs
Bett. Mit seinem Taschenmesser schneidet er einen Bleistift
durch. Er mag halbe Bleistifte, die problemlos
in die Hosentasche passen. Auf den Wannenrand legt er Bleistift und Handy, dann gießt er sich ein Glas Wasser ein. Endlich
kann er in die Wanne, und einmal drin, versucht er, sich auf Ruanda zu konzentrieren,
doch seine Gedanken schweifen ab zur Mutter seines Sohns, die sich bemüßigt fühlt,
mitten in der Nacht in ihrem eigenen Wartezimmer zu sitzen. Er würde sie gern liebevoll
ermahnen: »Lass das doch besser in Zukunft«, doch jetzt
ist es zu spät, sie noch mal zu stören. In ein paar Wochen ist sie ja hier, nein,
schon in zehn Tagen, und dann wird er die Zukunft mit
ihr besprechen. Er wird dafür sorgen, dass sie sich beruhigt.
[197] Er
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