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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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eingeschlafen. Sie selbst muss
ebenfalls eingenickt sein, obwohl sie nicht sagen könnte, für wie lange. Die Knoblauchpresse
ist ihr aus der Hand gefallen. Sie liegt auf dem Boden neben der kaum angeknabberten
Hähnchenkeule ihres Sohns.
    Sie versucht, sich zu erinnern, warum sie unbedingt in ihre Praxis wollte.
Ein paar Sekunden lang kann sie kaum glauben, dass sie wirklich in ihrem Wartezimmer
sitzt, mit ihrem Kind, mitten in der Nacht.
    Sie schaut auf die Uhr. Es ist zwanzig nach drei.
    [191]  Hier kann sie nicht bleiben, sie muss nach Hause, ihr Kind ins Bett
bringen, ihm vorher noch das Gesicht waschen, aber sie kann sich nicht rühren. Jonathans
Kopf ruht in ihrem Schoß, seine Beine liegen auf einem Stuhl. Sie wundert sich,
wie sehr er gewachsen, wie alt er schon ist.
    Sie hebt die Knoblauchpresse und die Hähnchenkeule vom Boden auf.
    In der Handtasche sucht sie ihr Handy. Von Lysander weder ein Anruf noch
eine Nachricht. Die Depressionen machen ihn unnahbar und verstockt.
    Einen Moment bleibt sie so sitzen, Handy und Knoblauchpresse umklammert,
in ihrem Wartezimmer, das sie vor knapp zehn Jahren zur Praxiseröffnung eingerichtet hat. Sie muss etwas unternehmen. Vom Hier-Sitzen-Bleiben
wird das Ganze nur schlimmer.
    Sie beschließt, Roland anzurufen.
    Wenn sie nicht weiß, was sie tun soll, ruft sie
ihren Ex an. Ein Reflex aus der Zeit ihrer Ehe.
    Mechanisch streicht sie ihrem Sohn übers Haar. Er schläft tief, er kann überall schlafen.
    Roland klingt nicht gereizt. Wenn er es eilig hat oder an etwas arbeitet,
raunzt er meist nur ein »Hallo«. Als könne er nicht verstehen, wie jemand es in
diesem Moment wagen kann, ihn zu stören. Jetzt hört er sich anders an. Gelassen,
fast freundlich.
    »Wo bist du?«, fragt sie.
    »Zu Hause«, antwortet er.
    »In deinem Hotel. Bist du gut angekommen?«
    Heute Morgen ist er von Deutschland zurück in die USA geflogen. Er war auf einer
Konferenz. Er hatte keine Zeit, [192]  auf dem Rückweg in Amsterdam vorbeizukommen,
weil er Lehrverpflichtungen hat. So hatte er es formuliert.
Sie hat Schwierigkeiten, sich immer alles richtig zu merken; wo er ist, was er macht.
Es geht sie auch gar nichts mehr an, nur noch im Zusammenhang mit ihrem Sohn.
    »Zu Hause«, beharrt er. »Was gibt’s?«
    »Nichts.«
    »Bei euch ist es mitten in der Nacht. Es ist … Wie spät ist es bei euch?«
    »Ja, es ist spät.«
    »Warum schläfst du nicht?«
    »Ich sitze in meinem Wartezimmer.«
    »Und Jonathan?«
    »Der schläft neben mir.«
    Sie versucht, sich Roland vorzustellen, in seinem Hotelzimmer in Fairfax.
Zweimal hat sie ihn dort besucht. Sie fand, dass er etwas Verlorenes hatte, als
hätte er sich dorthin verirrt; bei näherer Betrachtung jedoch kam sie zu dem Schluss,
dass er schon immer so gewesen war, es zu ihm gehörte wie eine Narbe.
    »Darf ich dich fragen, was los ist?«
    »Es ist alles so schwierig«, sagt sie.
    »Was?«
    Sie hört die Anspannung in seiner Stimme. Er mag keine Probleme. Als
sei alles Unvorhergesehene eine Verletzung seiner Intimsphäre, selbst Katastrophen.
Wenn es Krieg gäbe, wäre seine größte Sorge, dass er deswegen sein Forschungsprojekt
nicht fortsetzen könnte.
    »Mit Lysander. Mit mir. Hier bei uns.«
    »Was ist es genau?«
    [193]  Sie will etwas sagen, doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Sie hustet.
    »Ich wollte dich damit nicht belästigen«, sagt sie, »aber du bist nun
mal Jonathans Vater.«
    »Ich bin Jonathans Vater«, hört sie ihn sagen. Es klingt wie: »Tokyo
ist die Hauptstadt von Japan.« Dann fährt er im gleichen Ton fort: »Du hustest.
Bist du erkältet?«
    Immer noch streichelt sie ihrem Sohn geistesabwesend über den Kopf, wie
sie ein paar Stunden zuvor die Knoblauchpresse öffnete
und schloss.
    »Ich schaffe es nicht mehr allein«, sagt sie
schließlich.
    »Was?«
    »Die Erziehung.«
    »Möchtest du einen Babysitter?«, fragt er.
    »Ich habe schon einen«, antwortet sie.
    »Möchtest du einen zweiten? Geld ist nicht das Problem. Ein Au-pair-Mädchen
vielleicht, das rund um die Uhr da ist?«
    »Nein«, sagt sie entschieden, »ich will keinen zweiten Babysitter. Und
schon gar kein Au-pair-Mädchen, das rund um die Uhr da ist.«
    »Vielleicht wäre ein zweiter Babysitter aber ganz gut. Dann hättest du
mehr Zeit für dich. Ich könnte den Babysitter bezahlen.«
    »Ich will nicht, dass du wieder bezahlst. Ich will, dass du zurückkommst.«
    Schweigen am anderen Ende. Sie hört nichts, nicht einmal ein Atmen, doch
das kann an der

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