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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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vielleicht. Er ist ein zivilisierter Mann mit zivilisierten
Passionen.
    »Das ist intim«, sagt er. »Es ist ein Spiel. Alles, was wir haben: ein
Spiel.«
    Herzlos ist höchstens die Wahrheit, und das kann man der Wahrheit nicht
einmal übelnehmen.
    Er wartet, dass sie etwas sagt, doch es kommt keine Antwort.
    Ein aufregendes Spiel ist das Höchste, was der Mensch im Leben erreichen
kann. Das ist nicht zu verachten, nichts, was man achtlos vom Tisch wischen könnte.
    »Ich werde es mir überlegen«, sagt sie. »Wenn du es so gerne möchtest.«
    »Wird er dir auf einer Party wieder die Hand zwischen die Beine schieben?«,
fragt er.
    »Wer?«
    »Der Mann mit der roten Krawatte und der Freundin in London.«
    »Ich denk schon«, antwortet sie.
    Er wartet, aber es kommen keine neuen Details.
    »Ich muss jetzt ein Taxi rufen«, sagt er. »Ich muss nach Hause.«
    »In dein Hotel. Dein Zuhause im Best Western. Du bist einundvierzig und
wohnst im Hotel!«
    »Es ist ein prima Hotel. Warum sollte ich nicht dort wohnen? Mein Zuhause
ist die Universität. Meine Forschung. Schlaf schön, Liebste. Wann wirst du dir den
Mann [188]  zum Fremdgehen suchen, oder triffst du dich noch
mal mit dem letzten?«
    »Ich werd mir einen neuen suchen. Gibt’s
eine Deadline?«
    »Weihnachten?«
    »Weihnachten, okay«, sagt sie. »Schlaf schön.«
    Es klingt provozierend. Er weiß nicht recht, ob sie es ernst meint. Doch
ein Spiel wird erst dann interessant, wenn man wirklich darauf einsteigt oder wenn
es unmöglich geworden ist, das Spiel nicht ernst zu nehmen.
    »Und grüß Meneer Bär von mir«, sagt er noch. Dann drückt er sie weg.
    6
    Um halb drei in der Nacht ist Mevrouw Oberstein aufgestanden.
Sie konnte nicht schlafen. Um halb eins hatte sie ihre erste halbe Schlaftablette
genommen, sie nimmt immer erst eine halbe, doch die hat nicht gewirkt.
    Um halb zwei hat sie die zweite Hälfte genommen.
Doch auch die ohne Erfolg.
    Jetzt steht sie auf. Sich unaufhörlich im Bett hin und her wälzen ist
sinnlos.
    Sie trägt einen löchrigen rosa Pyjama, darüber zieht sie ihren roten
Bademantel. Sowohl den Pyjama als auch den Morgenrock besitzt sie seit über zwanzig
Jahren.
    Langsam geht sie die Treppe hinunter.
    [189]  Seit sie das Licht ausgemacht hat, gehen Mevrouw Oberstein die neuen
Nachbarn nicht aus dem Kopf. Sie haben vor das Seitenfenster von Mevrouw Obersteins
Garage eine Pflanze gestellt.
    Die Pflanze nimmt ihr das Licht.
    Fenster sind dazu da, Licht einzulassen. Dass sie selten bis nie in die
Garage kommt und diese hauptsächlich als Rumpelkammer benutzt, spielt keine Rolle.
Die Nachbarn stehlen ihr Licht. Wohl weil sie denken, sie könnten sich mit alten
Leuten alles erlauben. Leider lässt sich das Fenster nicht öffnen, sonst hätte sie mit der Pflanze
längst kurzen Prozess gemacht.
    Sie nimmt ihren Stock und öffnet die Haustür.
    Langsam geht sie zum Garten der Nachbarn, der sich zwischen ihrem Grundstück
und deren Haus befindet. Die Garage steht auf der Grenze.
    Die Lichter der Nachbarn sind aus. Alle schlafen.
    Über den Rasen geht sie zur Seitenwand ihrer Garage.
    Sie betrachtet die große Topfpflanze. Ein
hässliches Ding, ein Friedhofsgewächs! Im Haus der Nachbarn ist immer noch alles
dunkel.
    Mit dem Stock schiebt sie die Pflanze beiseite.
Die Fensterbank gehört ihr, die Leute sollen ihre Finger davon lassen. Juristisch
ein klarer Fall. Sie hat sich beim Katasteramt erkundigt.
    Immer mehr schiebt sie den Topf an den Rand. Die Pflanze fällt auf den Boden, der Topf bricht entzwei.
    Sie erschrickt von dem Krach, linst zu den Fenstern der Nachbarn hinüber.
Alles bleibt dunkel. Eigentlich ist sie aus dem Alter für solche Streiche heraus.
Aber sie hat [190]  sich oft genug vergebens beschwert. Dann
kommt sie ihnen eben anders. Die Nachbarn ließen ihr keine andere Wahl. Alte Leute
müssen sich unkonventioneller Mittel bedienen, damit die Welt nicht mit ihnen macht,
was sie will.
    Mevrouw Oberstein betrachtet den zerbrochenen Blumentopf. Tiefe Genugtuung
überkommt sie, und Ausgelassenheit, ein Verlangen nach Schabernack. In ihrer Jugend
gab es dazu keine Gelegenheit. Sie hat etwas nachzuholen.
    Am liebsten würde sie jetzt mit dem Stock an die Haustür der Nachbarn
hämmern. Lange und laut.
    Sie beginnt zu kichern. Schon allein die Idee, mit dem Stock an die frisch
gestrichene Tür dieser Leute zu pochen! Im Garten der Nachbarn kichert Mevrouw Oberstein
wie ein junges Mädchen.
    7
    Auf Sylvies Schoß ist Jonathan

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