Mit Haut und Haaren
Verpflichtungen. Und ehrlich gesagt: Völkermord deprimiert mich.
Du kannst dich von morgens bis abends damit beschäftigen,
aber ich lese zehn Minuten etwas darüber und bin noch stundenlang fix und fertig. Das musst du verstehen. Verzeih mir.«
Er streichelt ihr über die Wange, und als das erledigt ist, nimmt er
sich ihr Ohr vor. Sie hat süße Ohren, findet er.
Sie ist blass, immer käsig gewesen. Früher fand er das elegant, doch
auf einmal wird er den Gedanken nicht los, dass ihre ewig bleiche Haut mit ihrem
Interesse für Völkermord zu tun haben könnte.
Manchmal macht diese Blässe ihn rasend. Dann würde er ihr am liebsten
zwei Ohrfeigen geben, um etwas Farbe auf ihre Wangen zu bringen.
Seine Eltern waren Mitglieder der unitarischen Kirche, aber dass er eine
Jüdin heiratete, fanden sie kein Problem. Sein Sohn ist beschnitten. Zu Chanukka
gehen sie in die jüdische Gemeinde, zu Weihnachten geht er mit den Kindern in die
Kirche. Das ist gut für die Familie und gut für die Wähler.
»Lass uns mehr zusammen unternehmen«, sagt er. »Lad diesen Wirtschaftswissenschaftler doch einfach
mal ein. Deine Freunde sind meine Freunde. Wir müssen einander wieder mehr in unser
Leben einbeziehen.« Er lässt ihr Ohr los und streichelt ihr Kinn. Das gefällt ihr.
»Ich werde versuchen, mehr über den Holocaust zu lesen.«
[207] »Mal sehen«, sagt sie.
»Was?«
»Ob wir den Wirtschaftswissenschaftler einladen.«
»Ist er eigentlich verheiratet?«
»Ich glaub schon.«
»Weißt du noch«, sagt Jason, »wie du mich mal ›Mr. Brooklyn‹ genannt
hast? Abends im Bett?«
»Ja«, sagt sie. »Wie könnte ich das je vergessen?«
Sie geht ins Bad. Er folgt ihr. Sie cremt sich die Hände ein. Die sind
immer trocken. Vor allem im Winter. Bis zum Winter ist es noch weit, doch die Trockenheit
hat offenbar schon begonnen.
10
Bei schönem Wetter geht Roland Oberstein zu Fuß vom Best Western
zur Fakultät. Es ist ein Weg von gut dreißig Minuten, wenn man sich nicht aufhalten
lässt. Wenn Kollegen im Auto vorbeikommen, bieten sie ihm meist an mitzufahren,
was er stets freundlich, doch wie er fürchtet, auch eine Spur hochmütig ablehnt.
Nicht nur, um ihm einen Gefallen zu tun, wollen sie ihn mitnehmen, sondern
auch, wie Oberstein vermutet, weil sie seine Fußgängerei anstößig finden. Nur Obdachlose gehen in Fairfax zu Fuß, Verrückte oder
Leute, die vielleicht nicht völlig gestört, aber doch stark verwirrt sind.
Die Verwaltung und die Büroräume der [208] wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät sind in einem ehemaligen Kirchengebäude untergebracht;
das Institut selbst trägt den Namen Center for the Study of Public Choice, eine
Anspielung auf den großen Buchanan, der 1986 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt und ebenfalls an der George Mason University lehrte.
Wenn man das Center betritt, muss man erst ein paar Stufen hinaufgehen,
bis man an einer Sekretärin vorbeikommt, Larissa. Dann geht es nach links zu den
Dozentenbüros. Rechts liegt eine kleine Kaffeeküche,
eigentlich mehr ein Abstellraum, wo unter anderem auch der Kopierer steht. Das Gebäude
hat seine geweihte Ausstrahlung nie ganz abgelegt, doch das stört Oberstein nicht.
Eine Universität hat etwas Sakrales.
Larissa will ihre Stelle bald aufgeben, um ein Studium in creative writing zu beginnen. Erst muss man sie allerdings noch
irgendwo nehmen.
Das erste Büro rechts gehört Bergstrom. Es ist voller Papiere und Bücher,
die bis auf den Flur hinausreichen. Soweit Oberstein weiß, hat sich noch nie jemand
darüber beschwert, und darum tut er es auch nicht, obwohl er manchmal fast über
die Bücher- und Papierstapel stolpert. Bergstrom hat ein Stück Flur annektiert.
Wenn Oberstein lange genug an der George Mason bleibt, darf er vielleicht
ebenfalls ein Stück Flur annektieren.
Sein eigenes Büro liegt am Ende des Gangs, rechts. Dort befinden sich ein universitätseigener Computer, ein Teil seiner
Bücher, diverse Ausdrucke seiner Arbeit über die Geschichte der Blasenbildung –
zumindest die ersten [209] Kapitel –, ein Schreibtisch, zwei Stühle und ein paar Kleidungsstücke,
die er nach dem Reinigen vorübergehend hier aufgehängt hat, statt sie gleich in
sein Hotel zu bringen. Jeden Tag nimmt er sich vor, sie mitzunehmen, und jedes Mal
vergisst er es wieder.
Am Dienstag ist seine erste Vorlesung um elf, doch anders als die meisten
Kollegen versucht er trotzdem, gegen neun im Center zu sein.
Er ist hierhergekommen, um seine
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