Mit Haut und Haaren
ist der große Beruhiger. Studenten, Geliebte, die Mutter seines
Sohns, manchmal den Sohn, ab und zu einen Kollegen, seine Verwandten (soweit er
mit ihnen noch Kontakt hat zumindest) – alle beruhigt er. Nicht durch leere Versprechungen
oder Sentimentalitäten, sondern, indem er ihnen erklärt, dass das, was sie befürchten,
so schlimm gar nicht ist.
Zu Lysander hat er sich nie geäußert, er hat ihn nur ein- oder zweimal
gesehen. Er kennt ihn vor allem aus Sylvies Erzählungen. Und das reicht ihm.
Sylvie und Violet sind sich schon öfter begegnet,
und Jonathan und Violet scheinen sich gut zu verstehen, ja, von Jonathans Seite
aus geradezu ausgezeichnet.
Seine Kollegen an der Uni stellen ihm selten Fragen zu seinem Privatleben,
er selbst spricht dieses Thema auch lieber nicht an. Ab und zu bekommt man einen
zufälligen Einblick beim einen oder anderen Kollegen, doch danach zu fragen scheint
an der George Mason tabu, und dieses Tabu will er nicht brechen. Das Privatleben
stellt nur eine Fußnote in der Bio-Bibliographie seiner Kollegen dar, ein Hindernis,
bestenfalls eine angenehme Zerstreuung. Recht haben sie: Was ist schon ein Privatleben,
wenn man seine Studenten hat und seine Forschung?
Er schiebt die Gedanken an seinen Sohn und dessen Mutter beiseite und
fängt an zu lesen.
Er ist gerade bis zum dritten Absatz gekommen, da vibriert sein Handy.
Er greift danach, vorsichtig, um das Glas
Wasser daneben nicht umzustoßen.
Es ist Lea. Er zögert einen Moment, dann geht er ran.
[198] Sein Bedürfnis, die Menschen nicht zu enttäuschen, behindert den Fortgang
seiner Forschung. Doch er ist diszipliniert. Er ist wie die USA : Er kann mehrere Kriege gleichzeitig führen.
Leas Stimme klingt leise und gehetzt. Nur mit Mühe kann er sie verstehen.
»Hallo?«, sagt er. »Ist die Verbindung so schlecht, oder flüsterst du wieder?«
Erst als sie ihren ersten Satz wiederholt, hört er: »Wie geht’s? Bist
du zu Hause?«
»Ja, ich bin in Fairfax. Und du? Sind die Geschenke bei den Kindern gut
angekommen?«
»Die Kinder schlafen. Sie haben sich über
die Geschenke gefreut.«
Sie murmelt noch etwas.
»Könntest du etwas lauter und langsamer sprechen?«, bittet er. »Entschuldige,
ich liege in der Wanne, ich arbeite.«
»In der Wanne?«
»Ich lese. Lesen ist auch arbeiten.«
»Die Kinder schlafen«, sagt sie. »Störe ich?«
»Nein. Und dein Mann?«
»Der schläft nicht. Der arbeitet auch. Wie
du. Was machst du gerade?«
»Ich lese. Sagte ich doch.«
»Was?«
»Was über Ruanda. Und ich liege in der Wanne.«
»Wann können wir uns sehen?«
Er legt den kopierten Artikel auf den Boden. Zwei gegensätzliche Kräfte kämpfen in ihm. Wünsche, könnte man sagen, doch »Kräfte« findet er zutreffender. Einerseits das [199] Bedürfnis, Leute von sich wegzustoßen,
sie als überflüssigen Ballast über Bord zu werfen, andererseits
die Sehnsucht, sie für immer an sich zu binden, nie mehr loszulassen.
»Am Wochenende bin ich in New York«, sagt er.
»Wochenenden sind schwierig für mich«, antwortet Lea, »dann belagert
mich meine Familie.«
»Meistens fahre ich Montagabend nach Fairfax zurück, aber ich könnte
auch einen Frühzug am Dienstag nehmen.«
Am liebsten würde er kontern: »Unter der Woche ist schwierig für mich,
dann belagern mich meine Studenten«, doch er schluckt die Bemerkung hinunter.
»Montagabend ginge, da könnten wir zum Essen ausgehen. Dann ist mein
Mann nicht zu Hause. Er muss nach Albany.«
Eigentlich weiß er nicht recht, ob er Montagabend überhaupt mit ihr essen
will, aber er findet, dass er ein solches Angebot nicht
ausschlagen darf. Er ist bereitwillig derjenige, den andere in ihm sehen. Bis es
ihm zu viel wird. Vielleicht ist das der Grund, warum es mit Sylvie schiefging.
Sie hatte in ihm den Familienvater gesehen, und er hatte die Rolle mit Eifer gespielt,
bis sie ihn beengte. Doch einmal aus der Rolle gefallen, konnte er nicht mehr zurück.
Was sich einmal als Maske entpuppt hat, ist für immer entlarvt.
»Okay, Montagabend«, sagt er. »Es gibt ein Bistro nicht weit von meinem
Apartment. Nice Matin.«
Er ist noch nie da gewesen, aber er hat Gutes darüber gehört. Seine Vermieterin
geht ab und zu mit Freunden dort essen, bisweilen auch allein, und immer wieder
hat sie ihm auf der Treppe von dem Steak mit Pommes frites [200] vorgeschwärmt, vor
allem vom Steak Tartare. »In meinem Alter ist rohes Fleisch natürlich gefährlich«,
hat sie gesagt, »aber ich esse es nun
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