Mit Haut und Haaren
Arbeit abzuschließen, nicht zum Ausschlafen.
Die Zusicherung, er brauche kaum zu unterrichten und könne alle Zeit
seiner Forschung widmen, hat sich in der Praxis als leicht übertrieben erwiesen,
aber man hat ihm baldige Abhilfe versprochen.
Bis auf weiteres arbeitet er morgens meist zwei Stunden konzentriert
an seinem Kapitel über die Tulpenmanie im siebzehnten Jahrhundert, doch heute kann
er sich nicht konzentrieren.
Seine Ex hat Probleme. Sich mitten in der Nacht mit dem Kind ins Wartezimmer
der eigenen Zahnarztpraxis zu setzen ist kein kleines Problem, das ist eine akute
Gefährdung. Schlecht für die Mutter und schlecht für das Kind.
Oberstein fragt sich vergeblich, was er unternehmen könnte. Der Gedanke
erfüllt ihn mit Melancholie sowie dem vertrauten Gefühl, wieder nicht zu genügen.
Einem Schuldgefühl, das sich offenbar nicht tilgen lässt.
Ehrgeiz hat seinen Preis. Man muss nun mal Prioritäten setzen. Wer sich
aufs eine spezialisiert, muss das andre vernachlässigen.
Die Geschichte der Blasenbildung ist seine berechtigte [210] Priorität,
sein Spezialgebiet: Wo immer man handelt, wird spekuliert, wo man spekuliert, wird
geblufft, und es wird stets Leute geben, die auf den
Bluff reinfallen. So gesehen ist die Spekulationsblase
kein Auswuchs, sondern unvermeidlicher Bestandteil des Wirtschaftsgeschehens. Solange es Menschen gibt, wird es Spekulationsblasen
geben.
Er holt sich einen Espresso, hält ein Schwätzchen mit Larissa, die aus
der Dominikanischen Republik stammt und gerade zurück ist von fünf Tagen Familienbesuch.
Sie hat ein paar köstliche Anekdoten aus ihrer Jugend auf Lager. Dann beantwortet
er E-Mails und googelt ein paar Kollegen, die er verabscheut, weil sie sein Fachgebiet
in Verruf bringen.
Sein Sohn geht ihm nicht aus dem Kopf, immer wieder sieht er ihn mitten
in der Nacht in einem Wartezimmer sitzen.
Er beginnt eine E-Mail an Jonathans Mutter, bricht aber mittendrin ab.
Er versucht, sich auf seine Forschung zu konzentrieren, und kehrt dann doch zu der
E-Mail zurück. Die Nachricht, die er schließlich verschickt, besteht nur aus wenigen
Sätzen: »Pass gut auf Dich auf, auf Dich und auf Jonathan. Für fast jedes Problem
gibt es eine Lösung. Sich nachts in ein Wartezimmer zu setzen ist allerdings keine,
vor allem, wenn es das eigene Wartezimmer ist. Alles Liebe, RO PS Denk über mein Angebot bezüglich des Au-pair-Mädchens
nach.«
Theoretisch ist er nicht der einzige Ausländer am Institut. Außer ihm
gibt es noch einen Russen, den viele für ein Genie halten, sehr jung, guter Schachspieler
und schon so lange hier, dass er mehr Amerikaner ist als Russe. Und [211] einen Franzosen,
der zuvor Dozent an einer Universität in Arizona war und sich in den letzen Monaten
auf die Selbstregulierung der Pornoindustrie spezialisiert hat. In seinem neuesten
Artikel hat er behauptet, dass Aids sich in der Pornoindustrie nur minimal ausbreite,
weil der Sektor sich selbst reguliert habe. Der Franzose ist selten am Platz, und
welche Stelle er in der fakultätseigenen Hackordnung einnimmt, ist Oberstein immer
noch nicht richtig klar.
Einmal kam der Franzose unangekündigt in sein Büro gestürmt: »Oberstein,
wusstest du, dass die Pornoindustrie die einzige Branche ist, in der Frauen deutlich
mehr verdienen als Männer?«
»Und was sollen wir nun daraus schließen?«, hatte Oberstein ihm erwidert.
»Das gilt es herauszufinden!«, hatte der Franzose
geantwortet und war wieder verschwunden.
Tatsächlich fühlt Oberstein sich fremder als der Franzose und der Russe.
Als Außenseiter, müsste er vielleicht sagen.
Er hat kein Auto, und er wohnt in einem Hotel, doch daran kann sein Außenseiterstatus
in Fairfax nicht liegen. In Rotterdam hatte er manchmal dasselbe Gefühl, doch dort
lag das seiner Meinung nach daran, dass er für die Erasmus-Universität einfach zu
gut war.
Die meisten Dozenten am Center würden im normalen Leben, wenn das der
richtige Ausdruck für die Welt außerhalb der Universität ist, als Außenseiter oder
zumindest als Sonderlinge gelten: allesamt Leute, die Exzentrik für ein Zeichen
von Genialität halten. Er selbst hält sich nicht für exzentrisch, eher für zurückhaltend,
vorsichtig, wenig [212] geneigt, mit seinem Ehrgeiz hausieren zu gehen, ab und zu,
selten, vielleicht etwas undiplomatisch.
Nachdem ihr Verhältnis sich nicht mehr verheimlichen ließ, hatte er Violets
Exfreund einen freundlichen Brief geschrieben. Immerhin war der Junge ein
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