Mit Haut und Haaren
Student
von ihm, und nicht einfach nur ein Student, Roland hatte seine Diplomarbeit betreut.
Oberstein erledigt die Dinge gern auf seine Weise, innerhalb der Grenzen des Anstands,
versteht sich.
Erst hatte seine Exfrau gemuckt, dann ihn verachtet und ihn zuletzt als
Vater ihres Sohns akzeptiert. Traurig war sie auch gewesen, doch nicht in seiner
Anwesenheit. Das Leiden anderer kann er nicht ertragen. Er erträgt den Anblick nicht,
so wie manche Leute den Anblick von Blut.
Violet will, dass es öfter nach ihr geht.
Sie will mehr Nähe. Dabei hatte er schon gleich beim Kennenlernen gesagt: »Violet,
denk daran, bald gehe ich in die Vereinigten Staaten.« Sie hatte das kein Problem
gefunden und nur gemeint: »Wenn man sich dann wiedersieht, ist es jedes Mal richtig
spannend.«
Er weiß nicht, was für eine Rolle sie in seinem Leben spielt, welche
Rolle Menschen überhaupt darin spielen. Eine wichtige, zweifellos, doch was für
eine genau, ist ihm noch nicht recht klar. Letztlich trifft
der Mensch rationale Entscheidungen, nicht nur beim Kaufen, auch wenn er
sich bindet. Auf dieser Prämisse beruht die gesamte Wirtschaftswissenschaft. Von gewissen Ausnahmen
einmal abgesehen, streben Menschen nach Lustmaximierung.
Wenn er Violet vor sich sieht, sieht er sie in den Armen eines anderen.
Nicht erst, seit sie ihm von ihrem [213] Seitensprung erzählte, schon lange zuvor sah
er sie so. Er weiß nicht, ob das Eifersucht ist, er ist sich nicht einmal sicher,
ob es ihn stört.
Oberstein macht sich an die Lektüre seines zuletzt fertiggestellten Kapitels.
Die meisten seiner Kollegen kennen Obersteins Veröffentlichungen – oder geben es zumindest vor – und wissen sie
offenbar auch zu schätzen, sonst hätte man ihn am Center
nicht eingestellt. Trotzdem fühlt Oberstein sich hier nur als Gast.
Vielleicht versucht er darum – viel mehr als in Rotterdam –, sich hier
einzuordnen. Zu einer erfolgreichen Karriere gehört eine realistische Einschätzung
der Lage. Und anders als in Rotterdam ist die Konkurrenz, wie er weiß, hier sehr
groß. Am Center wimmelt es nur so von genialen Kollegen.
Meist lunchen die Dozenten zusammen, und stets ist Oberstein mit von
der Partie. Nur Andrew Weinert schließt sich ihnen nie an. Weinert ist ein freundlicher,
etwas steif wirkender Kollege – immer im Anzug, am liebsten mit Weste –, der offenbar von nichts anderem als gedünstetem Broccoli lebt und
von Kaffee.
Oberstein holt sich noch einen Espresso. Seit kurzem hat das Center for
the Study of Public Choice eine Espressomaschine. Der geniale Russe und er haben
dafür gesorgt. Der geniale Russe trägt Sandalen, was Oberstein nicht weiter stört.
Doch er trägt Socken dazu, und das treibt Oberstein um, nicht nur aus ästhetischen
Gründen: Wissensvermittlung ist eine heikle Angelegenheit; der Vermittler sollte
die Aufmerksamkeit weder durch Kleidung [214] und Schuhwerk noch durch übertriebenen
Schmuck allzu sehr auf sich selbst lenken. Auch als Oberstein die Wissensvermittlung
noch als Theater betrieb, kleidete er selbst sich stets äußerst schlicht.
Natürlich hat er nichts gegen Genialität, sehr wohl aber gegen den Irrglauben,
zu Genialität gehöre ein asoziales Verhalten.
Mit dem Espresso schlendert Oberstein noch mal zu Larissa. Er ist noch
immer beunruhigt. Wie fast jeden Dienstagvormittag sind er und die Fakultätssekretärin
die einzigen Menschen im ganzen Gebäude. Die anderen Dozenten kommen immer erst
später.
»Was machen deine literarischen Ambitionen?«, fragt er sie.
Larissas Ergüsse interessieren ihn genauso wenig wie jegliche schöngeistige
Literatur, doch an diesem Hort gelebter Exzentrik fühlt er sich als Außenstehender
verpflichtet, die Rolle des liebenswürdigen Europäers
zu spielen, und mittlerweile geht er völlig in dieser Rolle auf. Hilfsbereit, soweit
es sich mit seiner Zurückhaltung vereinbaren lässt, freundlich, stets interessiert.
Sie erzählt weitschweifig von einer Geschichte
über ihre Großmutter, an der sie gerade arbeitet. Er hört nur mit halbem Ohr zu,
stellt aber im richtigen Moment die richtigen Fragen.
Während Oberstein mit dem Espresso in sein Büro zurückgeht, sieht er,
dass Andrew Weinert gekommen ist.
Als er an der Fakultät neu war, hat Weinert sich um ihn gekümmert. Schon
allein darum mag Oberstein ihn recht gern. Beide interessieren sie sich für Wirtschaftsgeschichte.
[215] An einem von Rolands ersten Tagen in Fairfax nahm Weinert ihn beiseite
und grummelte:
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