Mit Haut und Haaren
mal für mein Leben gern, und wenn ich schon
sterben muss, dann mit einem Stück Steak Tartare zwischen den Kiemen.«
Roland hatte freundlich genickt. Hätte er ihr nachdrücklicher beigepflichtet, so fürchtete er, hätte er sie am Ende noch in das
Restaurant begleiten müssen.
»In Ordnung«, sagt Lea. »Ich kümmere mich um einen Babysitter. Aber die
Upper West Side ist ziemlich weit für mich. Bist du sicher, dass du dich nicht irgendwo downtown mit mir treffen willst?«
»Da bin ich fast nie. Macht es dir etwas
aus?«
»Nein, schon in Ordnung. Nice Matin. Schön, mal was Neues kennenzulernen.«
»Okay«, sagt er, »ich freue mich.«
Das sagt er öfter: »Ich freue mich.« Auch
zu Studenten, wenn sie ihm für den nächsten Tag ihr Paper ankündigen.
Vielleicht freut er sich genauso auf eine Frau wie auf ein Paper.
Seinen Mangel an Leidenschaft fand er nie
ein Problem, doch zu seinem Erstaunen hat er gemerkt, dass gerade deren Abwesenheit
manche Leute, vor allem Frauen, fasziniert.
Nur auf Violet wirkt das nicht. Schon ein paarmal hat sie zu ihm gesagt:
»Unsere Beziehung könnte ein bisschen mehr Leidenschaft gut
vertragen.«
Sie belagert ihn so sehr mit Vorwürfen, dass er allmählich glaubt, es
ist etwas dran. Offenbar ist er wirklich ein Mann mit
einem Mangel an großen Gefühlen.
[201] Schade, dass Violet nicht sieht, wie leidenschaftlich er an seinem Forschungsprojekt arbeitet.
»Ja ist in Ordnung, Nein ist auch gut«, so ist oft
seine Haltung den Mitmenschen gegenüber und seiner Meinung nach der Weg zum
größtmöglichen Glück. Doch es gibt Frauen, die etwas Mysteriöses dahinter vermuten,
einen Vulkan – wenn schon nicht einen kurz vor dem Ausbruch, dann wenigstens einen
schlafenden.
»Was wird das Gesprächsthema?«, fragt er. Er sagt es im Scherz, ist aber
gleichzeitig neugierig, was sie von dem Abend im Nice Matin erwartet.
»Der Holocaust«, antwortet sie. »Das war
doch dein Hobby?«
Er schnaubt. Ein Nasenloch ist verstopft.
Das Wort »Hobby« bereut er jetzt. »Ja ist in Ordnung, Nein ist auch gut« gilt nicht
für seine Forschung. Einmal hat eine Fachzeitschrift einen
Artikel von ihm über die IG Farben zurückgewiesen mit der Begründung, er sei nicht
wissenschaftlich genug. Das wurmt ihn noch heute. Seine
Freundin darf fremdgehen, solange nur die Fachblätter seine Artikel nicht ablehnen.
»Nun ja«, antwortet er, »es ist ein Nebengebiet meiner Arbeit, sagen
wir’s so.«
»Und hast du selbst noch Programmpunkte?«
»Nein. Dann sehen wir uns im Nice Matin, nächsten Montag – sieben, halb
acht?«
»Acht. Ich muss die Kinder ins Bett bringen. Ich muss ihnen vorlesen.
Bei uns ein ganz wichtiges Ritual.«
»Deine Kinder sollen wegen unserem Essen nicht zu kurz kommen. Halb neun.«
[202] Er legt das Handy zurück auf den Wannenrand, nimmt seinen Bleistift und den Artikel, doch noch immer kann er sich nicht konzentrieren.
Er denkt an einen Mann mit roter Krawatte und einer Freundin in London, einen Mann,
der, kurz bevor er drei Finger in Violets Vagina schiebt, zu ihr sagt: »Ich lebe
für Lust-, nicht für Gewinnmaximierung.«
9
Als Jason seine Rede zu Ende geschrieben hat, findet er seine Frau in der Küche vor. Diese ist zum Wohnzimmer
hin offen, beide trennt eine Bar mit Anrichte, zu der
auch drei Hocker gehören. Sie sitzen selten auf diesen Barhockern.
In Brooklyn leben gut achtzig verschiedene Bevölkerungsgruppen, und als
Bezirksbürgermeister ist es seine Aufgabe, all diese Bevölkerungsgruppen bei Laune
zu halten. Kein Fest, auf dem er nicht anwesend wäre. Wer das nicht tut, wird nicht
gewählt und schon gar nicht wiedergewählt. Morgen muss er auch wieder zu einer feierlichen
Eröffnung. In seinem Terminkalender hat er es notiert:
823 feierliche Eröffnungen hat er als Bürgermeister von
Brooklyn schon vorgenommen. Das ist sein Job.
»Mit wem hast du telefoniert?«, will er wissen.
Dreimal pro Jahr schenkt er seiner Frau einen Strauß Blumen. Zu ihrem
Geburtstag, zum Muttertag und zum Hochzeitstag. Meistens Rosen, denn die liebt sie.
Andere [203] Männer lassen den Strauß von ihrer Sekretärin besorgen, er nicht. Er geht
selbst in den Blumenladen. Aus Respekt vor seiner Frau und vor der Institution Ehe.
»Mit dem Wirtschaftswissenschaftler«, sagt sie. Ihr Blick wirkt erwartungsvoll.
Ein Wirtschaftswissenschaftler? Ihm war gar nicht bewusst, dass sie so einen kennt.
Er selbst hat in seiner Funktion diverse Wirtschaftswissenschaftler kennengelernt,
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