Mit Jockl nach Santiago
uns führen würde. Wir fahren geradewegs in die Regenfront hinein. Kragen zu und Kapuzen übergezogen, den Kopf wie vor einer Tracht Prügel zwischen die Schultern verkrampft und hinein in die graue Suppe. Selbst bei einem gelegentlichen Schielen nach links oder rechts bleiben die Blicke immer nur in endlosen Regenfahnen hängen, nirgends ein Lichtblick, nirgends ein Wolkenloch. Nach zwei Stunden dieser kostenlosen Waschstraße trudeln wir ziemlich angeweicht in Mauriac ein. Gleich vor der ersten Bar am Stadtrand lösen wir unsere steifen Glieder aus einer völlig erstarrten Sitzhaltung und begeben uns, vermummt wie wir sind, zum Abtropfen und Aufwärmen an den leeren Tresen: »Dö Kaffee o lee, siwuplä!« - Der beleibte Barmann mustert uns mißtrauisch; als er feststellt, daß wir wirklich nur zwei Stehkaffee konsumieren und keinen Überfall inszenieren wollen, widmet es sich wieder seinem »Journal«, läßt aber zwischendurch seine dösigen Blicke durch die verschmierten Fensterscheiben ins außerhäusige Regengrau wandern.
Lustlos machen wir uns schließlich wieder auf die Gummistiefel und überwinden uns zu einem Stadtrundgang. Leere! Totenstille überall, nicht einmal ein flüchtiges Gesicht hinter einem der Fenster. Diese Ausgestorbenheit beschäftigt uns dermaßen, daß wir gar nicht mitbekommen, wie der Regen versiegt und sich die Wolkendecke lichtet. Bei der Basilika Notre-Dame-des-Miracles angelangt, klärt sich einiges auf: Ein Begräbnis findet statt, und auf dem Platz vor dem Südportal harrt eine schwarze Trauergemeinde reglos auf das Erscheinen des Sarges, den bald darauf vier Träger aus der Kirche befördern und in einen bereitstehenden Leichenwagen schieben. Passenderweise klafft gerade in diesem Moment die Wolkendecke ein wenig auseinander, und unwirkliches Blau erhellt die bedrückende Tristesse sich geräuschvoll schneuzender Angehöriger. Als ob der Seele des Verstorbenen nun gerade durch dieses Fleckchen Blau freier Aufstieg in jenseitige Sphären gestattet wäre, so könnte man diese plötzliche Wetterbesserung deuten. Die Basilika atmet noch den schweren Totenmessenduft, als wir einige Zeit später zwischen ihren romanischen Gemäuern umherschreiten und in allem eine unübersehbare ärmliche Einfachheit feststellen. Einzig das mit einem bemalten Relief geschmückte romanische Taufbecken - eine sichtliche Kostbarkeit - findet unsere Bewunderung. Außen an der Kirche verblüffen uns einige Kragsteine unter den Dachgesimsen der Chorkapellen mit einer recht freizügigen Darstellung menschlicher Körper. Hut ab vor der wagemutigen Kreativität damaliger Handwerker, die mit großem Geschick und dem rechten Blick Obszönes, Gewalttätiges und manchmal geradezu Surrealistisches in künftig geweihten Stein meißelten. Reichlich belustigt über die aussagekräftigen Figurenmotive verlassen wir Mauriac campingwärts zu einem der Stadt gegenüberliegenden Hügel. Der Vier-Sterne-Platz: sehr sauber, sehr ruhig, sehr freundliches Personal! Wir sind aufs Löblichste überrascht, und wie geplant, checken wir für zwei Nächte ein.
Eine kränkelnde Sonne müht sich durch morgendliche Nebelschwaden und später am Tag immer wieder zwischen Haufenwolken hindurch. Heute erleben wir Mauriac in einiger Regheit und geschäftigem Treiben. Doch unser Jockl bereitet uns seit einigen Tagen Sorge; sein Reifenprofil schwindet, bedingt durch das ständige Asphaltfahren, unglaublich schnell. Und diese Entdeckung, die anfangs jeder nur für sich registriert und kontrolliert hat, um den jeweils anderen nicht zu beunruhigen - wie rücksichtsvoll! - wächst sich mit dem Verlust jeden Millimeters immer mehr zum Problem aus. Gestern bereits haben wir bei unserer Stadtdurchfahrt einen Reifenhändler gesichtet, den wir jetzt mit unserem werten Besuch beehren und nach den Gegebenheiten einer möglichen Reifenbestellung befragen, in bester Pantomimensprache versteht sich. Der Geschäftsführer zeigt sich gestenreich entgegenkommend, und verspricht uns bis zum späten Nachmittag Informationen einzuholen. Wir geben uns aber keinen allzu großen Hoffnungen hin; Jockls »Schuhgröße« wird vorerst sicher ein unlösbares Problem bleiben.
Mit einem Ausflug ins 22 Kilometer entfernte Salers lenken wir uns für einige Stunden ab. Vor einigen Jahren mußten wir an diesem Städtchen am Rande der Monts du Cantal, dem größten Vulkanmassiv Europas, mangels Zeit vorbeiradeln; heute wollen wir damals Versäumtes nachholen.
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