Mit Jockl nach Santiago
der Spitze eines hohen Vierungsturmes endet. Das Innere entspricht dem Äußeren: allererste Sahne! Die Augenweide für alle der zahlreichen Besucher dürfte der Chor samt Chorumgang sein ~ hier lockern schmale Rundbögen und Säulen mit Figurenkapitellen die Schwere der Romanik auf, ohne ihre strenge Klarheit zu beeinträchtigen. Im gegenüberliegenden Café erholen wir uns von unserer übermäßigen Begeisterung und warten einen kurzen Regenguß ab, ehe wir unsere windreiche Tour wieder aufnehmen. Kurz nach dem Ort beginnt die acht Kilometer lange Auffahrt zum 1268 m hohen Col de Guéry. Die eigenwillige Schönheit der Landschaft läßt unsere Seelen Purzelbäume schlagen. Auf den glatten, sonnigen Flanken und Hügeln der Puys spielen Wolkenschatten Fangen, und leuchtendes Grün lacht knallig gegen Fetzen blauen Himmels. Der einstweilige Höhepunkt dieser Szenerie bietet sich uns jedoch bei einem Stopp kurz vor der Paßhöhe. Zu schnell bin ich vielleicht mit überzeichneten Vergleichen zur Stelle, aber für mich ist’s ein Blick ins Paradies. Zwischen dem Roche Tuilière und dem Roche Sanadoire, den schroffen Felsresten eines Vulkankegels gleiten unsere Blicke in ein regelrechtes Hügelmeer, dessen kleinste Wellen erst irgendwo am Horizont ans Ufer schlagen. Wiesen und Wälder in lockerer Abwechslung halten die optische Spannung; eine Wand aus Aberhunderten von Basaltsäulen am Steilabfall des Roche Tuiliere animiert zu einem Griff nach dem Feldstecher, um zwischen Sprüngen und Rissen in den Relikten gigantischer Erdkräfte herumzuforschen. Die gesamte, hauptsächlich durch Vulkanismus geformte Auvergne bietet jedem Geologen und Vulkanologen ein unerschöpfliches Betätigungsfeld. Und wer mit all den Wissenschaften nichts am Hut hat, dem bleibt immer noch das Sehen und Erleben einer hinreißenden, erhabenen und mancherorts sogar melancholischen Landschaft. Nach dem Paß überholt uns mit reifensurrender Geschwindigkeit ein sportlicher Radlertrupp, danach bleiben wir bis zur Abzweigung nach Murol die einzigen Raser auf der Rennstrecke. Erneut nebeln wir eine Paßstraße hinauf zum 1401 m hohen Col de la Croix Morand. Die Wälder bleiben hinter beziehungsweise unter uns zurück, und vor uns öffnen sich Traumgebirge von kahler Schönheit. Karge Almvegetation liegt in schier endlosen Matten wie eine zweite Haut über den vulkanischen Bergformen - einfach fantastisch, und wir staunen, während wir frieren! Ungestümer Wind bläht unsere Jacken zu halben Ballonen auf und reißt die frischen Nasentröpfchen von unseren Riechern.
In einsam windumtosten Getucker streben wir einer gemäßigteren Talregion zu. Mulden und Senken nehmen uns auf, die in der späten Nachmittagssonne wie ein abstraktes Relief wirken. Mit den wärmeren Temperaturen ändert sich auch die Pflanzenwelt wieder: Wiesenstiefmütterchen en masse, der schon unvermeidliche Fingerhut, Taglichtnelken und übergroße Skabioseblüten schmücken die Serpentinen und Kurven bis nach Murol, wo wir mit der auf einem Vulkanzacken trutzenden Burgruine vor Augen in erster Feierabendstimmung schwelgen.
Bevor es Wolfgang gelingt, sein morgendliches Zwei-Minuten-Spiel wider die Spielregeln auf zwei Stunden auszudehnen, schaffen wir den Aufbruch. Unter sommerlichem »Aral«-Himmel unternehmen wir einen kurzen Abstecher nach Saint-Nectaire, ein in Ober- und Unterdorf etwas zerpflückt wirkendes Thermalbad und Standort einer weiteren auvergnatischen Kirchenkostbarkeit. Sie erhebt sich im Gegenteil zu ihrer Schwester in Orcival auf einem Basaltkegel und krönt den Ort ringsum und unterhalb des Felsens mit ihren herrlichen Proportionen. Das Innere der Kirche bleibt uns verwehrt, dafür sorgt ein mürrischer Mesner, der uns und einem weiteren Besucherpaar sofort nach der beendeten Messe die Portaltür vor den Nasen zuknallt.
Auf dem Rückweg stoppen uns vier überdrehte Urlauber in einem Pkw, um uns zu fotografieren, doch ab Murol entwischen wir jeder weiteren Aufmerksamkeit, indem wir uns für die kommenden Kilometer ins höher gelegene Almabseits schlagen. Bis Besse-en-Chandesse zieht sich ein herrliches Hügelpanorama von Nord nach Süd, und wir beide tummeln uns wie Johanna Spyris Heidi und Peter mitten im Kuhglockengebimmel der weidenden Schecken. Übermütig stimme ich einen Jodler an, mit mäßigem Erfolg - das muhende Publikum dankt mir den musikalischen Vortrag mit pflatschend-dampfender Erleichterung seines Gedärms und einer gewissen Verklärung im Blick.
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