Mit Konfuzius zur Weltmacht
sorgt.«
Die Produktionsstätten für die schönen neuen Waren liegen nicht in den glitzernden Citys, sondern weit außerhalb, wie etwa die Fabrik des Adidas-Zulieferers Apache im südchinesischen Qingyuan, Provinz Guangdong, im Westen bisweilen auch unter der Bezeichnung Kanton geläufig. Auf dem Weg dorthin überholt man Menschen, die zu zweit auf dem Moped fahren. Statt Helmen tragen sie breite Strohhüte, ganz wie Chinesen in deutschen Bilderbüchern für Kinder. Straßenhändler bieten unter Sonnenschirmen Melonen an. In der Umgebung wirkt das Gelände des Zulieferers wie eine Insel der Ordnung: Bäume und Sträucher sind in einheitlichen Abständen aneinandergereiht, ein künstlicher See ist angelegt. Für die Mitarbeiter wurden sogar Wohnungen und ein Kindergarten gebaut, alles vielfach besser als das, was die Wanderarbeiter aus ihren Heimatdörfern kennen. Denn keiner der Beschäftigten kommt von hier. Seit Beginn der Reform und Öffnung hat sich nach Angaben der Gesamtchinesischen Föderation der Gewerkschaften fast ein Fünftel der Chinesen, 242 Millionen Menschen, auf den Weg gemacht, um woanders besser zu verdienen – die größte Wanderungsbewegung in der Geschichte der Menschheit.
13 000 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen, fast keine über 30 Jahre alt, nähen oder kleben Schuhsohlen an. »Zögere nie, einen Untergebenen zu fragen« , heißt es bei Konfuzius. So weit gehen sie hier nicht. Die Wanderarbeiter haben wenige Rechte, sitzen in den riesigen Fabrikhallen genauso aneinandergereiht wie die Bäume und Sträucher draußen, nur in viel geringeren Abständen. Als Uniform tragen sie grellgrüne Polohemden, die Frauen außerdem rote Kopftücher mit weißen Punkten. Ihr Lohn beträgt umgerechnet 120 Euro im Monat, Überstundengeld und Zuschläge für die Wochenendarbeit eingeschlossen. In benachbarten Fabriken kam es schon zu Streiks und Unruhen, Arbeiter kündigen immer öfter, wenn sie einen Job mit besserer Bezahlung finden. Charles Yang, der Fabrik-direktor, kommt aus Taiwan, wie viele der Investoren und Manager hier – auch wirtschaftlich wächst der konfuzianische Kulturraum zusammen. Die Taiwaner kennen ihren Konfuzius noch viel besser als die Festlandchinesen, immerhin war die Tradition auf der Insel nie unterbrochen. So kennt Yang die Warnung des Philosophen: »Mit Frauen sowie mit Untergebenen umzugehen ist schwierig. Ist man vertraut mit ihnen, so werden sie anmaßend. Hält man auf Distanz, dann sind sie unzufrieden.« Der Fabrikdirektor sagt: »Wir versuchen, hier eine Gemeinschaft zu entwickeln. Der Grund dafür ist: Je länger die Arbeiter bei uns bleiben, desto besser.«
Aus Internet und Fernsehen wissen die Wanderarbeiter, wie die Reichen leben, und so nimmt der Unmut zu. Im Jahr 2006 zählte Chinas Akademie für Sozialwissenschaften noch 87 000 »Störfälle mit Massencharakter«, 2008 waren es bereits 127 000, und 2010 stieg die Zahl gar auf 180 000. Gemeint sind Proteste wie im Juni 2011 in der Stadt Zengcheng, ebenfalls Provinz Kanton. Hier versuchten Sicherheitsleute, eine schwangere Straßenhändlerin, 20 Jahre alt, vom Gehweg zu vertreiben. Daraufhin bewarfen Wanderarbeiter die Sicherheitsmänner und auch Polizisten mit Steinen und Ziegeln. »Wir sind wütend«, sagte einer der Wanderarbeiter, der aus Angst seinen Namen nicht nennen wollte. »Der Rechtsstaat scheint hier nicht zu existieren. Die lokalen Funktionäre machen, was sie wollen.« Am Ende demolierten die aufgebrachten Bürger ein Regierungsgebäude und setzten Polizeiautos in Brand.
Chinas Führung versucht zu beruhigen – mit Konfuzius. Für sie ist der Aufruhr eine Blamage, hatte der größte Philosoph des Landes doch gesagt: »Hat man oben ein richtiges Verhältnis zu Recht und Pflicht, dann wird sich im Volke niemand erkühnen, Ungehorsam zu zeigen.« Staats- und Parteichef Hu Jintao, gelernter Ingenieur und einst Anführer der Kommunistischen Jugendliga, erklärte in einer Schlüsselrede vor dem Nationalen Volkskongress: »Konfuzius lehrt uns, die Harmonie zu schätzen.«
13. Oktober 2011 in der Stadt Foshan, auch sie gehört zur Boomprovinz Kanton. Bilder einer Überwachungskamera zeigen eine grausame Szene: Ein zweijähriges Mädchen geht langsam über eine enge, von Einkaufsläden gesäumte Straße. Die Kleine schaut sich um, später wird ganz China wissen, dass sie Yueyue heißt. Ein weißer Lieferwagen fährt auf sie zu, überrollt sie. Der Fahrer stoppt kurz, überlegt offenbar, was er tun soll.
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