Mit Konfuzius zur Weltmacht
Statt auszusteigen, rast er wieder los, überrollt Yueyue ein zweites Mal mit den Hinterrädern. Doch das Schlimmste kommt noch: Wie die Kamera minutiös festhält, gehen 18 Passanten an dem verletzten Kind vorüber, schauen hin oder bewusst weg, keiner hilft. Ein zweiter Kleinlaster überfährt das Mädchen, ein Motorradfahrer schlägt einen Bogen um die Blutlache. Erst nach sieben Minuten erbarmt sich eine ältere Frau, eine Müllsammlerin, und zieht Yueyue von der Straße. Eine Woche später stirbt das Mädchen im Krankenhaus.
Die beiden Fahrer werden aufgrund der Überwachungsbilder gefunden und müssen mit hohen Strafen rechnen, doch in ganz China beginnt eine Diskussion: Warum sind die Menschen so herzlos? Der Tod Yueyues ist beileibe kein Einzelfall. Kurz zuvor war ein alter Mann in der Stadt Wuhan auf der Straße gestürzt und wegen seiner stark blutenden Nase erstickt, weil ihm niemand half. Yueyue findet deshalb so große Aufmerksamkeit, weil sich die Bilder, wie sie starb, in China über das Internet schnell verbreiten.
Ein spezifischer Grund wird schnell genannt: Das skandalöse Urteil eines chinesischen Gerichts aus dem Jahr 2006. Eine Frau war gestürzt, als sie aus dem Bus stieg, ein hilfsbereiter Mann hatte sie ins Krankenhaus gebracht. Um an Geld zu kommen, verklagte sie ihn später, er habe sie gestoßen. Das Gericht verurteilte ihn zu einer für chinesische Verhältnisse hohen Schadensersatzsumme und begründete das so: Er sei verdächtig, weil er mehr geholfen habe, als es »jemand normalerweise in einem solchen Fall tun würde«. Im Ergebnis sagten 87 Prozent der Befragten bei einer Umfrage des KP-Zentralorgans Volkszeitung , sie würden einem am Boden Liegenden nicht helfen.
Doch die Ursachen liegen tiefer, und jenes Urteil war nur ein Ausdruck dessen. »Verantwortlich ist der Zusammenbruch jeglicher moralischer Standards in unserer Gesellschaft«, schreibt der Blogger Haishang nach Yueyues Tod. Ein anderer Internetnutzer, der sich xxx777 nennt, meint: »Dies ist das unvermeidliche Resultat unserer Geldanbetung.« Wie Reichtum vergöttert wird, verdeutlicht eine junge Frau, die in einer TV-Show äußerte: »Lieber in einem Mercedes weinen, als auf einem Fahrrad glücklich sein.«
Beispiele für den moralischen Verfall findet man in China allerorten. Kriminelle entführen Kinder und schlagen sie zu Krüppeln, um sie als Bettler einzusetzen. Doch auch legale Firmen tun oft alles, was ihnen Geld bringt. So streckten Zulieferer von Produzenten für Babynahrung verdünnte Milch mit Melamin, das sonst für Klebstoffe verwendet wird, um einen höheren Proteingehalt vorzutäuschen. Daran starben 2008 sechs Neugeborene, 300 000 Kinder erkrankten − zum Teil schwer.
Im Internetforum Tianya Club schreibt ein Teilnehmer, der sich der »Große gute Yang« nennt: »Was jetzt passiert, gibt uns das Gefühl, dass wir alle in dieser Gesellschaft nicht zur Menschheit gehören. Wir sind nur das Vieh, das von einer Elite gehalten wird, damit wir für sie arbeiten. Wenn sie eines Tages die Lust verliert, fängt sie einen von uns und tötet ihn und sagt, so sei das Gesetz. Und wir stehen dabei und gucken zu – ohne Mitgefühl, ohne Mitleid, ohne Trauer, ohne Selbst. Wenn man dann doch einmal etwas Menschliches tun will und helfen möchte, dann lässt unsere Gesellschaft das nicht zu. Wir gehen gerade in eine Viehgesellschaft über.«
Auch Mao wird von chinesischen Mikrobloggern angegriffen: Weil er die Religion verboten hat, sei das heutige geistige Vakuum entstanden. Maos Nachfolger wollen es jetzt mit Konfuzius füllen. Auch in der Bevölkerung wachsen nach Yueyues Tod die Gegenreaktionen. In Guangzhou folgten mehr als 10 000 Menschen dem Aufruf einer örtlichen Zeitung und demonstrierten »gegen Gleichgültigkeit und für wahre Liebe«. Eine Aktion auf dem populären Mikroblog-Portal Sina Weibo heißt: »Stoppt die Apathie!«
Die denkbar größte öffentliche Rehabilitierung erfuhr der unter Mao verfemte Konfuzius vor fast vier Milliarden Fernsehzuschauern weltweit bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Peking 2008. Tänzer stellten die 3000 Schüler des Konfuzius dar. Sie präsentierten Bambusstreifen, die zu Rollen zusammengebunden waren. Auf solchen Bambusstreifen wurden früher die Worte des Meisters aufgeschrieben. Die Darsteller zitierten aus den Gesprächen des Konfuzius : »Und wenn von fern her Gleichgesinnte kommen – ist das nicht auch ein Grund zur Freude?«
Kommunistenführer Hu
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