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Mit Kurs auf Thule

Mit Kurs auf Thule

Titel: Mit Kurs auf Thule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten A. Seaver
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sondern weiter südlich auf dem großen Hof Gardar am Einarsfjord. Das heißt nicht, dass Brattahlid seinen Status verloren hätte – eine gewachsene Einwohnerzahl erforderte höchstwahrscheinlich einen größeren Versammlungsplatz für das Thing, das Herzstück der nordmännischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. In einem Bericht des Priesters Ívar Bárdsson, des zeitweiligen Repräsentanten des Bischofs von Bergen in Gardar in der Mitte des 14. Jahrhunderts, ist zu lesen, dass der Gesetzessprecher immer in Brattahlid wohnte. Man weiß allerdings nicht sicher, was dieser Titel bedeutete, denn zu Ívars Zeit war das alte Amt in Norwegen wie auch in Island schon durch einen vom König ernannten Beamten ersetzt worden. 3
    Ursprünglich war der Gesetzessprecher, der die Gesetze der Gemeinschaft auswendig lernen musste und sie bei Bedarf rezitierte, die wichtigste Person beim Thing. Sein Amt war im Grunde ein Wahlamt, profitierte jedoch von ererbtem Reichtum und Macht. Die Zusammenkunft beim Thing war auch überaus wichtig, um die gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen zu bewahren, die die Kolonisten aus Island und Westnorwegen mitgebracht hatten. Dort hatte das Leben in einer zerklüfteten Landschaft ebenfalls dazu geführt, dass Gemeinschaften aus verstreuten einzelnen Anwesen entstanden, aber |51| keine Dörfer und Landstädte. Jedes Jahr um Mittsommer kamen die unabhängigen Bauern von überall her zum Thing zusammen, um Gesetze in Kraft zu setzen, Rechtsstreitigkeiten beizulegen und Handel zu treiben. Neben dem Tausch von Überschüssen gegen Luxuswaren wie auch gegen lebensnotwendige Güter umfasste der Handel am Rande des Things wohl auch viele Heiratsabmachungen und Übereinkünfte zur Ausbildung von Kindern. Wann immer isländische Sagas den Ziehvater oder die Ziehmutter von jemandem erwähnen, verweisen sie auf den Brauch, andere Erwachsene außer den Eltern in die Betreuung und Ausbildung eines Kindes einzubeziehen, sei es in der eigenen Familie oder im Heim der Zieheltern. Das System stärkte erweiterte Treuebindungen und sorgte dafür, dass die Runenschrift und die Heilkunst ebenso gelehrt wurden wie die Schießkunst und das Kunsthandwerk.

Die Grönländer bewahren ihre kulturelle Identität
    Die Nordmänner trafen in Grönland auf Paläo-Eskimos der Dorset-Kultur, die schon länger im Norden der Insel lebten, und auf die etwas später ankommenden Neo-Eskimos der Thule-Kultur. Beide arktischen Völker mussten ebenso wie die Nordmänner für ihre Familien und Gemeinschaften sorgen. Sie taten das mittels Jagdmethoden, Lebensweisen und Sitten und Gebräuchen, die sie in ihrer langen Vertrautheit mit den Polarregionen entwickelt hatten, genau wie die mittelalterlichen Nordmänner rund um den Nordatlantik von den Erfahrungen ihrer Vorfahren zehrten. Weder die Dorset- und Thule-Menschen noch die Nordmänner mussten den fremden Lebenstil des jeweils anderen kopieren, denn beide Gruppen besaßen die Fähigkeiten und Traditionen, die sie brauchten, um zu jagen, zu fischen und auf andere Weise Nahrung zu sammeln, ihre Kinder aufzuziehen und als Gemeinschaften zu funktionieren – und schließlich auch, um sich warm zu halten.
    Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sporadischer Kontakt zwischen den Nordmännern und den Dorset- oder den Thule-Menschen zu bedeutsamen kulturellen Veränderungen auf einer Seite geführt hätte. Archäologen haben bisher auch keinen Beleg dafür entdeckt, dass die nordischen Grönländer durch die Anwesenheit der anderen Völker in ihrer Existenz bedroht waren. Sie hielten vielmehr beständig an ihren kulturellen Eigenarten fest und lebten so weiter, wie sie es gewohnt waren. Überreste ihrer Wohnstätten, ihrer Werkzeuge, ihrer Knochen und ihrer Nahrung zeigen, dass die Nordmänner in Grönland bis zum Untergang ihrer Kolonie ein Dach über dem Kopf hatten und ausreichend Kleidung besaßen. Beides überdauerte die Zeiten und war durchaus |59| den Alltagstätigkeiten im Haus und draußen angepasst. Die Siedler jagten, fischten, bewirtschafteten das Land und trieben Handel ähnlich wie die Menschen in Island und Norwegen. Sie waren an ihre einzigartige Umwelt so gut angepasst, dass sie auch die Jagdsaison in der Polarregion überstanden.
    Grundlos fundamentale Aspekte der eigenen Kultur aufzugeben, kann wohl kaum mit dem Begriff »Anpassung« beschrieben werden. Die Vorstellung, dass sich die nordischen Grönländer hätten »anpassen« sollen, indem sie die Jagdmethoden, die

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