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Mit Kurs auf Thule

Mit Kurs auf Thule

Titel: Mit Kurs auf Thule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten A. Seaver
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der Gesellschaft. Unflexibel war sie nicht, und sie enthielt auch keine feudalen Elemente, wie man sie aus anderen Ländern Europas kannte. In der mittelalterlichen nordischen Kultur, die die Siedler mit nach Grönland gebracht hatten, ging man immer davon aus, dass ein Anführer so lange an der Macht war, wie die Menschen lieber ihm als jemand anderem folgten, und dass selbst die Autorität des mächtigsten Häuptlings in einer Gemeinschaft verstreuter Bauernhöfe in einer rauen Umwelt Grenzen hatte. Unter solchen Umständen hätte kein Bauer, ob reich oder arm, lange ohne Eigenverantwortung und Unternehmergeist existieren können. Gleichzeitig war Kooperation der Schlüssel für das Überleben des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft.
    In beiden grönländischen Siedlungen haben Wissenschaftler umfangreiche Belege für eine effektive Umverteilung von Nahrungsressourcen innerhalb der Kolonie gefunden, und Dokumente bezeugen, dass die Siedler auch Waren exportierten, um den Außenhandel aufrechtzuerhalten. Für eine so komplexe Wirtschaft, die auf den hochriskanten Tätigkeiten Jagd und Fischfang aufbaute, war eine Koordination durch die Häuptlinge ebenso erforderlich wie die bereitwillige Kooperation der übrigen Bevölkerung. Jeder Häuptling, der seine Autorität über seine Gefolgsleute aufrechterhalten und Tribut von ihnen einfordern wollte, wusste sehr wohl, dass reiner Zwang niemanden in das Polargebiet trieb, um sich dort mit Walrossen und Eisbären herumzuschlagen, oder an die Meeresküste, um monatelang auf Fischfang zu gehen.

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    |66| 4 Land in Sicht – Leif Eiriksson segelt in die Neue Welt
    Kein Aspekt der Lebensweise, der Kultur und der Leistungen der nordischen Grönländer ist wirklich unumstritten, doch an nur wenigen Themen kann man sich so sehr die Finger verbrennen wie an der Frage, was sie gewannen, als sie nach Nordamerika segelten. Nun trägt es – vor allem in Anbetracht der unterschiedlichen Expeditionsberichte in den beiden Vínland-Sagas – nicht gerade zur Abkühlung der Diskussion bei, wenn man zunächst einmal ihre Beweggründe für diese Fahrten untersucht. Dennoch kann es lohnend sein darüber nachzudenken, was der Auslöser für die weiteren Expeditionen der Nordmänner nach Westen war, und dann die Erwartungen der Grönländer mit dem zu vergleichen, was sie tatsächlich erreichten.

Aufbruch mit Hintergedanken
    Immer wieder überquerten die nordischen Grönländer die Meerenge der Davis Strait, doch waren ihnen Größe und kontinentale Natur Nordamerikas natürlich ebenso unbekannt wie der Engländer John Davis (englischer Seefahrer, 1550–1605) und der Name Amerika, der erstmals 1507 auf »Amerikas Taufurkunde«, der Weltkarte von Martin Waldseemüller, auftauchte. Allerdings hatten sie schon bald bemerkt, dass im Westen ihres Landes noch eine weitere Landmasse existierte. Wir können davon ausgehen, dass die ersten geplanten nordischen Expeditionen nach Nordamerika ebenso von einer Absicht getragen waren wie die Erkundung Grönlands durch Eirik. Wie sein Vater wusste auch Leif von Anfang an, dass es da etwas gab, das der Erkundung wert war.
    |67| Die epische Erzählung des immer weiteren Ausgriffs der Nordmänner in den Nordatlantik ist voller Beispiele von neuen Ländern, die durch eine Kombination aus Zufall und Zwangsläufigkeit entdeckt wurden, und es gibt kaum einen Grund anzunehmen, dass das nordische Wissen über Küsten jenseits von Grönland einem anderen Muster folgte. Als der norwegische Archäologe und Abenteurer Helge Ingstad mit der Suche nach nordischen Landungsplätzen in Nordamerika begann, erkundete er die beiden Seiten der Davis Strait auf einem kleinen Schiff und stellte fest, dass man an der schmalsten Stelle der Meerenge, wo sie bei Holsteinborg nur etwa zweihundert Seemeilen breit ist, nicht sehr weit aufs Meer hinaussegeln muss, um die Berge von Baffin Island zu sehen. Auch die hohen Berge bei Holsteinborg erlauben einen Blick auf die gegenüberliegende Küste, wie Ingstad anmerkte. »Es ist, kurz gesagt, mehr als wahrscheinlich, dass die Nordmänner schon sehr früh Kenntnis von den Küsten des Baffinlands hatten, und diese wiesen den Weg in andere Teile Nordamerikas.« 1
    Schriftliche Belege für Reisen in den hohen Norden entlang der grönländischen Küste der Davis Strait finden sich erstmals in der
Historia Norvegiæ
aus dem späten 12. Jahrhundert. Daraus hat man geschlossen, dass die nordischen Siedler einige Generationen warteten,

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