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Mit Kurs auf Thule

Mit Kurs auf Thule

Titel: Mit Kurs auf Thule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten A. Seaver
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Kanon.
Skræling(j)ar
waren die kleinen Menschen, die das ungefährlichste und entwickeltste dieser ungeheuerlichen Völker bildeten und an den nordöstlichen Rändern der bewohnbaren Welt lebten. Das war die Vorstellung der gebildeten Europäer, zu denen sicher auch Eirik der Rote, Thorfinn Karlsefni und andere führende Protagonisten der beiden Vínland-Sagas zählten.
    Dieses allgemein verbreitete Wissen war weder auf Menschen mit formeller Ausbildung beschränkt noch war es ein Monopol bekennender Christen. Während Eiriks Ehefrau der Bau einer kleinen Kirche auf ihrem grönländischen Hof zugeschrieben wird, war Eirik der Rote den Berichten zufolge Heide, als er nach Grönland auswanderte, und blieb dies im Grunde bis zu seinem Tode, doch auch er und sein Kreis hatten sicher Anteil an den Vorstellungen, die unter ihren konvertierten Freunden zirkulierten.

|91| Der Westen war endlich auf den Osten gestoßen
    In Anbetracht der geografischen und anthropologischen Vorstellungen, die Anfang des 11. Jahrhunderts kursierten, hatten die Nordmänner allen Grund zu glauben, dass sie bei ihren Vínland-Expeditionen weit genug nach Westen gesegelt waren, um einen Teil des Fernen Ostens zu erreichen, mit dessen Existenz man im Prinzip rechnete, der aber von keinem anderen Europäer je zuvor erkundet worden war. Und als sie schließlich auf die Bewohner jener fremden Küsten trafen, sahen diese zwar aus wie Menschen und verhielten sich auch so, wirkten aber dennoch minderwertig und unterentwickelt – zumindest gemessen an dem hohen kulturellen Entwicklungsstand, den die Nordmänner sich selbst zuschrieben. Mehr noch: Die Ureinwohner glichen in Aussehen und Lebensweise den legendären Pygmäen. Dieses Volk wurde ursprünglich an den äußeren Rändern des Mittelmeergebietes angesiedelt, in dem das homerische Epos der
Ilias
(um 800 v. Chr.) spielte. Seit der Zeit des römischen Historikers Plinius des Älteren (23–79 n. Chr.) jedoch galten die Pygmäen als schwer auffindbare Jäger und Sammler, die in Höhlen oder Erdaufschüttungen in kalten, gebirgigen Landen ganz weit im fernen Nordosten wohnten. 14 Sie wurden als klein und dunkelhaarig mit olivfarbener Haut beschrieben, weshalb Eirik der Rote und sein Kreis mit einigem Grund annehmen konnten, dass sie tätsächlich auf diese sagenhaften Menschen gestoßen waren. Ari, der seinen Bericht in der nordischen Volkssprache schrieb, verstand die Bedeutung der Übersetzung
Skræling(j)ar
voll und ganz, und der anonyme Author der »Saga von Eirik dem Roten« erwies sich als ebenso bewandert in den mittelalterlichen Mythen. Er ließ Thorvald Eiriksson durch den Pfeil eines Einfüßlers sterben und beschrieb die Ureinwohner, die Karlsefni und seine Männer in Hóp bedrohten, als »kleine Kerle. Sie sahen tückisch aus, und ihr Haupt trug borstiges Haar. Sie hatten große Augen und breite Backen.« (vgl. Kapitel Vier).
    Andere Belege dafür, dass Skraelinger und Pygmäen für die mittelalterliche Vorstellung ein und dasselbe waren, finden sich in den erhaltenen Fragmenten des englischen Werkes
Inventio fortunata
(um 1360) und dessen vermuteter Verbindung zum norwegischen Priester Ívar Bárdsson, der 1364 nach Bergen zurückkehrte und von dreiundzwanzig Jahren in Grönland berichtete. Der Autor der
Inventio
ist nicht bekannt (aber wir wissen sicher, dass es nicht Nicholas of Lynne war, wie so oft angenommen worden ist); die erhaltenen Passagen der
Inventio
verdanken wir dem Reisenden Jacobus van Knooij aus ‘s-Hertogenbosch, der sich 1364 in Bergen aufhielt, und einem Brief des niederländischen Kartografen Gerhard Mercator an den englischen Universalgelehrten John |92| Dee. Mercator hatte van Knooijs Bericht gelesen und im Jahr 1577 Dee darüber informiert, der den Brief dann übersetzte und seinerseits mit Anmerkungen versah. Mercator stellte fest, dass nur zwölf Meilen Norwegen von der »Provinz der Dunkelheit« trennten, die dem Großkhan unterstand (Nordostasien). »Nordnorwegen erstreckt sich bis zu dem Gebirgszug, der den Nordpol umgibt … Dort in der Nähe, nach Norden hin, leben jene Kleinen Leute, die auch in den
Gestae Arthuri
erwähnt werden«. Aus dieser abgelegenen Gegend kamen Berichten zufolge 1364 acht Menschen nach Norwegen, darunter ein Priester mit einem Astrolabium (Messgerät zur Winkelbestimmung am Himmel). Der Priester erklärte dem norwegischen König, dass ein englischer Minorit und guter Astronom aus Oxford »jene nördlichen Inseln [Grönland]« im

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