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Mit Kurs auf Thule

Mit Kurs auf Thule

Titel: Mit Kurs auf Thule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten A. Seaver
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Westküste nach Süden, bis sie die nordischen Siedlungsgebiete erreichten. 2 Wie die Dorset-Menschen, deren Siedlungsgebiet sich mit dem ihren im Nordwesten überschnitt, und die Algonkin, auf die die Nordmänner in Nordamerika trafen, wurden auch die Thule-Menschen als »Skraelinger« bezeichnet.
    Waren die Nordmänner nicht in der Lage, zwischen drei indigenen Kulturen zu unterscheiden, deren Angehörige nicht nur jeweils unterschiedlich aussahen und sich verschieden kleideten, sondern sich auch in ihren Werkzeugen, Waffen und Transportmitteln unterschieden? Ganz sicher nicht. Vielmehr sollte die altnordische Bezeichnung
Skræling
(Plural:
Skræling[j]ar)
eine eindeutige Unterscheidung zwischen den Nordmännern und den eingeborenen Völkern, die sie in Grönland wie auch in Nordamerika antrafen, ermöglichen. Die mittelalterlichen Nordmänner gaben von ihnen entdeckten Orten und Völkern gewöhnlich Namen, die ein ins Auge springendes Charakteristikum betonten – man braucht sich ja nur die Namen anzusehen, die Leif Eiriksson nordamerikanischen Regionen gab. Im Großen und Ganzen sind sich die |86| Wissenschaftler darin einig, dass
Skræling
ein pejorativer, also abwertender Ausdruck war, denn aus der nordischen mittelalterlichen Literatur geht hervor, dass das Hauptcharakteristikum der eingeborenen Völker, die die Nordmänner auf ihren Reisen in den tiefsten Westen antrafen, ihre geringe Größe war – eine Eigenschaft, die sie verachteten und die sie mit Schwäche gleichsetzten.

Die Welt als Kugel
    Die wissenschaftliche Diskussion konzentriert sich heute nicht mehr allein darauf, wie der Begriff
Skræling(j)ar
verwendet wurde, sondern vor allem auf den Ursprung dieses Wortes. Ausgehend von ihrer jeweils eigenen Fachkompetenz haben Archäologen, Historiker und Philologen, die sich mit der Besiedlung Grönlands durch die Nordmänner beschäftigen, in den letzten Jahren mit beachtlichem Erfolg überholte Annahmen hinterfragt, dabei allerdings oft die Konzepte ausgeklammert, von denen ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert ausgingen. Das bei Weitem größte Hindernis bei der Klärung der Herkunft und Bedeutung von
Skræling
lag darin, dass man die Vorstellung des 19. Jahrhunderts, die Menschen des Mittelalters – einschließlich der Nordmänner – hätten sich die Welt als Scheibe, nicht als Kugel, gedacht, einfach übernahm (in Kapitel Zwei wurde bereits kurz darauf hingewiesen). 3
    Die Vorstellung, man habe im Mittelalter geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, gründete zu weiten Teilen auf einem erfundenen Bericht in der
Geschichte des Lebens und der Reisen Christoph Columbus‘,
den Washington Irving (1783– 1859), ein begnadeter Autor, wenn es darum ging, Geschichte und Fiktion miteinander zu verschmelzen, 1828 verfasste. Einige mittelalterliche Landkarten sind tatsächlich kreisrund angelegt und zeigen Jerusalem im Zentrum, und einige Gelehrte des 19. Jahrhunderts waren aufgrund solcher Karten tatsächlich dieser Ansicht. Doch die Vorstellung des mittelalterlichen Scheiben-Weltbilds wurde Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem durch den Antiklerikalismus der Aufklärung bei den gebildeten Schichten Europas zementiert. In den Vereinigten Staaten warfen ihre Gegner der römisch-katholischen Kirche vor, bereits im Mittelalter diese Irrlehre verbreitet zu haben. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten die meisten Lehrbücher und Enzyklopädien diese Geschichte zwar korrigiert, allerdings hauchte Daniel Boorstin (1914–2004), der frühere Direktor der Library of Congress, ihr 1983 mit seinem viel gelesenen Buch
Die Entdecker
neues Leben ein. 4 Letztendlich jedoch setzten sich die »kühleren« Köpfe durch, als der erste Band der
History of Cartography
, herausgegegeben |87| von den herausragenden Experten der Kartografie J. B. Harley und David Woodward, 1987 erschien.
    Doch auch mehr als zwanzig Jahre später hat sich diese begrüßenswerte allgemeine Entwicklung noch nicht auf die wissenschaftliche Wahrnehmung jener zwei Nordisten ausgewirkt, die richtungsweisende Beiträge zur »Skræling«-Diskussion geliefert haben und dabei natürlich von der Annahme ausgingen, die Nordmänner hätten sich die Erde als Scheibe gedacht. Der norwegische Historiker Gustav Storm (1845–1903) und der dänische historische Kartograf Axel Anton Bjørnbo (1874–1911) waren zu ihrer Zeit wegen ihrer akribischen Arbeiten zu den mittelalterlichen Nordmännern und deren Großtaten im nordwestlichen Atlantik bekannt und

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