Mit Kurs auf Thule
werden auch heute noch gerne in der wissenschaftlichen Literatur zitiert, doch mit ihren Ansichten zum nordischen Weltbild hat sich bisher noch niemand genauer beschäftigt. Leider wurden sowohl die »Skræling«-Diskussion wie auch die Deutung der mittelalterlichen geografischen Quellen über den Norden durch diese Ansichten von Anfang an verzerrt. So zeigte sich Storm überzeugt davon, dass auch Adam von Bremen geglaubt habe, die Erde sei flach. 5 Storm wie auch Bjørnbo wussten um die historische Bedeutung alter Landkarten und waren überaus interessiert an den ersten beiden kartografischen Darstellungen Grönlands, gezeichnet zwischen 1424 und 1430 von dem Dänen Claudius Clavus (siehe auch Kapitel Zehn). Nur eine Kopie der früheren Clavus-Karte – die »Nancy-Karte« – ist erhalten geblieben; seine spätere Karte ist nur aus zwei beschreibenden »Wiener Texten« bekannt, aus deren Informationen heraus Bjørnbo eine rekonstruierte Karte zeichnete. 6 Diese gibt die Bezugspunkte und anderen Anspielungen in den Texten getreulich wieder, ist aber schlimm entstellt, weil Bjørnbo nicht verstand, dass die Menschen des Mittelalters einschließlich Clavus die Welt als Kugel sahen. So war er blind für die Bedeutung der Kartenlegenden, darunter die
Careli infideles
(heidnischen Karelier), die Clavus in Nordgrönland platziert hatte.
In seiner langen und turbulenten Geschichte war Karelien teils finnisch (und schwedisch-finnisch), teils russisch, und die Menschen dort waren berüchtigt dafür, dass sie das Christentum nur zögerlich annahmen. Offenbar wusste Clavus wenigstens einiges darüber und auch über die Bedrohung, die die Karelier (altnordisch:
kirjálar
7 ) für den Norden Norwegens darstellten. Er hatte offenbar auch gehört, dass die Ureinwohner im Norden die nordischen Grönländer bedrohten. All diese Gerüchte zog er auf seinen Karten wie auch in den »Wiener Texten« zusammen, in denen es heißt, dass die Halbinsel Grönland »vom Norden herabreicht, ein unzugängliches oder wegen des Eises unbekanntes |88| Land. Dennoch fallen die heidnischen Karelier, wie ich gesehen habe, ständig in gewaltigen Mengen über Grönland her, zweifellos von der anderen Seite des Nordpols kommend.« 8 Claudius Clavus, der vorgab, in Grönland gewesen zu sein (was ganz sicher nicht stimmte) und gesehen zu haben, dass die Karelier die grönländischen Nordmänner bedrohten, verband das Konzept der Weltkugel mit einer wenigstens zwei Jahrhunderte alten nordischen Überlieferung, der zufolge Grönland durch Landbrücken an beiden Seiten mit dem eurasischen Kontinent verbunden war. Weil er auch die Vorstellung seiner Zeitgenossen teilte, das der Nordostteil des Kontinents nicht weit über die Kara-See hinausrage, stellte er sich vor, dass die heidnischen Karelier von ihrer Heimat aus eine relativ kurze Strecke ostwärts zurückgelegt hätten, bevor sie nach Grönland hineinströmten. Auf ihrer Route nach Osten hätten sie sich nicht einmal mit den verschiedenen anderen Völkern im Norden auseinandersetzen müssen, mit denen der dänische Kartenzeichner die breite Landbrücke bevölkerte, die im Westen vom »Wildlappelandi« nördlich von Norwegen bis an Grönlands Ostküste reichte.
Menschliche Ungeheuer des hohen Nordens?
Claudius Clavus vermischte die Sagen und Legenden des Nordens mit konventionellen Vorstellungen über die Beschaffenheit der Erde und die ungeheuerlichen Menschenrassen, die angeblich an den äußersten Rändern des bewohnbaren Teils der Erde lebten. Er beschrieb die »wilden Lappen« als komplett mit Haar bedeckte Wilde, die dem norwegischen König tributpflichtig seien. Im Westen davon lebten »die kleinen Pygmäen, eine Elle hoch, die ich gesehen habe, nachdem man sie auf dem Ozean in einem Fellboot gefangen genommen hatte, das jetzt im Dom von Trondheim hängt. Dort findet sich außerdem ein langes Schiff aus Tierhaut, das ebenfalls einst mit solchen Menschen darin aufgebracht wurde.« Auf der Nancy-Karte tauchen jene
Pigmei maritimi
(Küstenpygmäen) etwas rechts der Mitte auf der Landbrücke nach Grönland auf, während die
Unipedes maritimi
(Küsteneinfüßler) weiter westlich an derselben Küste wohnen. Einfüßler (bei Plinius beschrieben als Skiapoden oder Schattenfüßler, die sich bei heißerem Wetter auf dem Rücken auf den Boden legen und sich mit dem Schatten ihres Fußes schützen) kamen in den mittelalterlichen Geschichten des Westens so häufig vor, dass die Verfasser der altnordischen
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