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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simonetta Greggio
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wartete darauf, dass er sich umdrehte, um mir ein letztes Mal zu winken.

D ie Herbstfeuchtigkeit hat das Dielenholz unter meinen Schritten wiederbelebt. Barfuß im Garten, die Hose an den Knöcheln rasch vom Raureif durchdrungen, die mollige Decke um die Schultern geworfen, fröstele ich. Ein paar Sterne funkeln inmitten der Blätter der dicken Eiche, die Wolken jagen am zerrissenen Himmel dahin. Die Hängematte schaukelt sacht. Die rote Stoffbahn, von Sonne und Regen verwittert, hat mich überallhin begleitet. Warum bleiben uns manche Dinge erhalten, während wir andere im Lauf der Zeit verlieren? Das, woran man hängt, behält man nicht unbedingt am längsten.
    Ich gehe wieder in mein Zimmer hinauf, mit einer Tasse heißem Kaffee in der Hand, die Decke über dem Arm. Die Stufen quietschen. Das Haus schnarcht leise, wie ein Schläfer, den man stört, aber nicht weckt.
     
    Meinen Befürchtungen zum Trotz hatte mich das Jahr an d’Aurevillys Seite abgehärtet. Die Angst vor den noch unbekannten Herausforderungen meines Berufs verflüchtigte
sich schnell, und ich stellte überrascht fest, dass ich Lust hatte, mich dem Kampf zu stellen, die eigenen Stärken und Kenntnisse auf dem Feld zu erproben. Auf einmal schienen mir die Probleme, die meine Arbeit mit sich brachte, unter anderem die Einsamkeit, nicht mehr unlösbar. Diese neue Kraft, eine Art Großspurigkeit, die ich plötzlich fühlte, beflügelte und berauschte mich.
    Der Ort, an dem ich die folgenden zehn Jahre verbrachte, hieß La Louvière. Der Name der Stadt und die Adresse, Chemin du Canal-des-Moulins, hatten mir gefallen, als ich in Begleitung eines geschwätzigen Maklers die ganze Gegend abfuhr, um eine Bleibe zu finden. Ich hatte beschlossen, mich in einem sanften Landstrich niederzulassen, wo es einen richtigen Frühling gibt, üppige Sommer, einen ausgedehnten Herbst und milde Winter.
    Das Haus erinnerte mich auf Anhieb an mein Elternhaus, es hatte dieselbe beruhigende, völlig ungekünstelte Ausstrahlung. Dieselbe Standfestigkeit. Es gefiel mir auch, weil die nächsten Nachbarn drei Kilometer entfernt waren und es am Ende des Zufahrtswegs hinter dicken Eichen verschwand, neben einem fischreichen Wasserlauf.
    Die einzige Zierde dieses alten und soliden, hässlichen, aber komfortablen Kastens, von wildem Wein überwuchert und für die Ewigkeit gebaut, war ein schönes schmiedeeisernes Vordach, das neue Glasscheiben brauchte. Um das Haus herum war das Grundstück verwildert, von Farn, Gestrüpp und Unkraut befallen.
Ich räumte nur den Weg frei, der von der Eingangstür zur Garage führte. Vom ersten Sommer an spannte ich meine Hängematte zwischen die unteren Äste einer dicken Eiche und schlief dort, wenn es nachts besonders heiß war. Diese riesige rote Hängematte, die in der Brise schaukelte, schloss mich ein wie ein Kokon; sie anzubringen, war mein einziger Beitrag zum Dekor des vernachlässigten Gartens, wo das Kraut im Frühjahr spross, zum Ende des Sommers hin austrocknete und zu Winterbeginn starb. Manchmal fiel ein vom Sturm gefällter Ast zu Boden, den ich nicht aufhob. Nach und nach breitete sich auf dem Holz weiches Moos aus und glich es dem Boden an. Der Jahreszeitenzyklus hielt mein Reich unerschütterlich in Schuss.
    Dieses Haus war meine Höhle, in der sich allmählich wieder die Bücher stapelten. Alle drei Monate erhielt ich einen langen Brief vom Chef, der das Telefon hasste und nicht wusste, wie man einen Computer bedient; die Zeit verstrich, ohne größeren Schaden anzurichten: vier Briefe, ein weiteres Jahr. An diese Adresse sollten es insgesamt vierzig werden.
    In meiner freien Zeit las ich. Während der vornehmste Teil meiner Bibliothek den großen Meistern vorbehalten ist, von Dostojewski bis Proust, über Musil und Joyce, gehört der lebendigste und am wildesten zusammengewürfelte Teil der Spannungsliteratur, amerikanischen Krimiklassikern und den französischen romans noirs . Kaum war ich zu Hause, ließ ich mich nach einem hastigen Abendessen auf das Sofa im Wohnzimmer fallen.
Oft wachte ich mitten in der Nacht auf, im Gesicht den Abdruck eines Schmökers, den ich beim Einschlafen fest in der Hand ließ. Wie eine Schlafwandlerin stieg ich die Treppe hinauf, um mich ins Bett zu schleppen, die Kleidung landete in einem Haufen auf den Boden. Mir war so, als hätte ich keine Vergangenheit mehr und als wäre meine Zukunft Schritt für Schritt vorgezeichnet. Was die Gegenwart betraf, dachte ich einfach nicht daran. Wenn ich

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