Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simonetta Greggio
Vom Netzwerk:
eine Erinnerung: Ich sah seine noch pulsierende Fontanelle vor mir, seine milchige Haut und seine ersten Haare.
    Annie wählte diesen Moment, um mit mir zu reden. Seit wir uns kannten, hatte sie sich mir noch nie anvertraut, und ich hatte sie auch nie klagen hören.
    »Manchmal ist es schon hart.«
    Den Teebecher in der Hand, neigte ich den Kopf, um ihr zu signalisieren, dass ich ganz Ohr war. »Dabei fühle ich mich nie einsam«, hauchte sie. »Du etwa?«
    Stille.
    »Aber ich hätte gern jemanden, der mir ab und an zuhört. Mit dem ich mich austauschen kann, verstehst du?«
    Wieder machte ich eine stumme Geste.
    »Ich habe das Gefühl, immer wieder dieselbe Geschichte durchzukäuen. Mich im Kreis zu bewegen. Es gibt Zeiten, da denke ich pausenlos daran. Und es tut mir noch genauso weh wie am Anfang.«
    Wieder Stille.

    »War schon ein seltsamer Typ. Charmant, klar, sogar sehr charmant. Sonst hätte es ja auch nicht geklappt. Ständig war er weg, aber er kam immer wieder zurück. Er war so voller Leben, so großzügig, dass ich ihm alles verzieh, wenn er da war, sein Wegbleiben, seine Lügen … alles.«
    Etwas verlegen stand ich auf, um aus dem Fenster zu blicken. »Alle wussten, dass er lügt, aber das haben ihm auch alle verziehen.«
    Sie ließ ein paar Minuten verstreichen. Dann schenkte sie Tee nach.
    Ganz leise sagte ich: »Was heißt alle ?«
    Sie sprach weiter, als hätte sie mich nicht gehört: »Alle, wirklich alle. So lügen Leute, die zu allem und jedem Ja und Amen sagen. Insbesondere zu Frauen.«
    »Was ist denn passiert?«, flüsterte ich. »Hast du ihn verlassen?«
    »Nein, obwohl ich wusste, dass er noch eine andere hatte und auch ein Kind, konnte ich ihn nicht verlassen. Eines Abends ist er bei der anderen gestorben. Geplatztes Aneurysma. Der perfekte Abgang. Niemand sagte mir Bescheid, weil sein Leben zweigeteilt war. Sie wusste nichts von mir, ihre gemeinsamen Freunde auch nicht. Ich habe auf ihn gewartet. Ich hatte genug Zeit, mir alles Mögliche auszumalen, dass er mich verlassen hatte, natürlich, dass er gestorben war, sicher; das Schlimmste war diese Ungewissheit, die Tatsache, dass auf nichts Verlass war. Die Nachricht von seinem Tod hat mich einige Zeit später per Einschreiben erreicht, eine Lebensversicherung, die er abgeschlossen hatte, ohne mir das
Geringste zu sagen. Von einem Tag auf den anderen entschied ich mich, alles aufzugeben. Und so bin ich hier gelandet.«
    Diesmal schwieg sie sehr lange. Dann fügte sie hinzu:
    »Schon erstaunlich. Ich dachte zuerst, ich würde nie darüber hinwegkommen. Danach habe ich nichts mehr empfunden. Die totale Leere. Inzwischen gibt es Tage, wo es unerträglich wird. Ich halte denselben Tagesablauf wie früher ein, aufstehen, frühstücken, aus dem Haus gehen. Ich handle wie unter Zwang. Statt zu schlafen, bringe ich eine ganze Nacht damit zu, mir die Details eines bestimmten Abends in Erinnerung zu rufen, welches Kleid ich trug, die Farbe seines Hemds … Wer hat gesagt, dass Zeit alle Wunden heilt?«
    Es regnete nicht mehr. Runde Tropfen schimmerten auf dem Moos, den Felsen und den Kiefernnadeln. Die Felswände glänzten. Man hörte die Glocken im Tal. Die Tiere meckerten. Annies Hund, der sich geweigert hatte, die Hütte zu betreten, solange ich da war, bellte ab und zu. Ich setzte mich wieder ans Feuer, aber Annie erzählte nicht weiter. Sie holte eine Flasche Whisky, und wir tranken stumm, während wir durch die offene Tür den Einbruch der Dämmerung betrachteten. Ich bat sie um ein Aspirin und um Asyl für die Nacht. Meine Halsschmerzen wurden stärker, und das Fieber stieg. Außerdem fehlte mir der Mut, nach Hause zu fahren. Ich kannte den Zustand, den Annie beschrieben hatte, nur zu gut. Obwohl so viel Zeit vergangen war, wusste ich, dass es noch so brennen konnte wie am Anfang.

    Bevor ich am nächsten Morgen ging, griff sie in eine kleine Truhe und entnahm ihr einen herrlichen runden Käse und ein Messer aus Olivenholz, die sie mir schenkte.
     
    Der restliche Tag war anstrengend und von einem Sprühregen durchtränkt, der überall eindrang, die Gelenke rosten ließ und die Atmung beeinträchtigte. Meine Barbourjacke roch nach abgehangenem Wild. Mir war übel, mein Gesicht bleich, meine Augen sahen aus wie bei einem Koi-Fisch. Das Fieber gärte und wärmte mich inmitten dieser Feuchtigkeit. Reihenweise nahm ich Untersuchungen vor, führte Gespräche mit Bauern, trank schlechten Kaffee. Als ich heimkehrte, fand ich das Haus dunkel und

Weitere Kostenlose Bücher