Mit Nackten Haenden
verschlossen vor, die Küche sauber und aufgeräumt, die Tür, hinter der Gio geschlafen hatte, angelehnt. Der Tag, der gerade zu Ende ging, ähnelte denen vor seinem Auftauchen und vermutlich auch denen, die danach folgen sollten, dachte ich ein bisschen traurig, aber erleichtert. Ich ging in mein Zimmer hinauf. Unterwegs ließ ich alle Kleidungsstücke fallen, um nackt zwischen die Laken zu sinken. Ich hatte nicht die Kraft, unter die Dusche zu gehen, auch wenn ich stank. Ich wurde von einer Reihe von Wellen erfasst, einer Brandung, die mich in die Tiefe riss. Vor dem endgültigen Zusammenbruch spürte ich einen Anflug von Reue wegen meiner Feigheit. Ich hatte weder mit Micol noch mit Raphaël gesprochen. Aber warum hätte ich das überhaupt tun sollen? Ich glaubte, dass Gios Ausreißerei sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, ich wollte mich weder in die Sache einmischen noch Näheres darüber wissen.
Ich war ihnen nichts mehr schuldig, sie waren mir auch nichts mehr schuldig, und selbst wenn der Wind die alte, nie ganz erloschene Glut flüchtig wieder angefacht hatte, dachte ich, wir wären inzwischen zu weit voneinander entfernt, als dass unsere Leben sich von Neuem vermischen könnten. Das war sogar das Letzte, was ich gewollt hätte. Und dennoch, wäre ich weniger taub, weniger blind gewesen, hätte ich gemerkt, dass die Wirklichkeit wenig gemein hat mit dieser Art von Neutralität, auf die ich mich berief, und dass uns stets sagbare und unsagbare Bande fesseln, wie diese dicken, aus dünneren Strängen gedrehten Taue, die sich selbst dann nicht lösen, wenn sie zu lange im Wasser liegen, sondern einfach nur verrotten. Diese zwei Tage, zwei Nächte mit Gio würden bald, dachte ich, auf meinem Erinnerungshaufen landen, mit ihrem unausgeschöpften Potenzial - und einer leisen Wehmut. Während ich in Schlaf und Fieber versank, blitzte vor meinem inneren Auge das Bild von Leuten auf, die auf einer gefrorenen trüben Fläche Schlittschuh liefen, sich um ein Eisloch scharten, in das jemand eingebrochen war, Gestalten nachjagten, die sie in die Irre führten, und über gefangene Schatten hinwegglitten.
Als mein letzter Funke Verstand verflogen war, ging ich unter.
S ollte ich eines Tages Geld im Lotto gewinnen, viel Geld, würde ich an meinem Leben nichts ändern. Ich würde nicht in ein neues Haus ziehen, ich würde mir nicht einmal ein neues Auto kaufen. Aber es besteht gar keine Gefahr, dass ich gewinne, weil ich nie Lotto spiele.
Ich würde auch nicht meine Falten glätten, das Gesicht einer Zwanzigjährigen zurückhaben wollen. Wieder jung sein? Wozu? Um mir auf hohen Stöckeln die Knöchel zu verrenken, während ich, die Augen voller Tränen, durch Paris laufe? Nein, diese Narben werde ich nicht verschwinden lassen, ich werde nicht so tun, als sei nichts vorgefallen. Diese Zeit gehört mir, meine Falten gehören mir. Deswegen sind sie mir nicht unbedingt lieb: Sage bloß niemandem, dass fünfzig das schönste Lebensalter ist. Im Übrigen bin ich noch gar nicht fünfzig. Erst siebenundvierzig. Bleiben drei Jahre, in denen man fürs Altsein zu jung ist und trotzdem ein bisschen zu alt, um noch jung zu sein.
Drei Tage Fieber. Träume vermengten sich mit der Wirklichkeit, Geister der Vergangenheit tanzten einen Reigen. Der Regen war vorbei, die Sonne schien ins Zimmer. Stundenlang sah ich dem Staub beim Wirbeln zu. Nachts hörte ich das »Uiiuuhh« der Eulen, die lang gezogenen Rufe der Männchen, die abgehackte Antwort der Weibchen. Die flinken Wiesel auf dem Dach. Das Quieken der Mäuse. Das Seufzen der Blätter im Wind. Ich stand auf, um Wasser zu kochen, dem ich frisch gepressten Zitronensaft und Aspirin hinzufügte. Das Telefon läutete mehrmals, aber ich nahm nicht ab. Ich legte mich wieder hin, in meinen alten Bademantel gewickelt, ich hatte nicht die Kraft, das Bett frisch zu beziehen, mich unter die Dusche zu stellen oder auch nur, mir etwas zu essen zu machen. Ich driftete weg, von Schüttelfrost gepackt, von Fieber verzehrt, schweißgebadet, mal glühend, mal eisig.
Am vierten Tag kam Gio wieder.
Mit einer Teetasse in der Hand setzte er sich aufs Bett. Im Abendlicht sah ich, wie seine Schultern sich unter dem Hemd abzeichneten, das weiß und fein war wie ein Schmetterlingsflügel, mit offenem Kragen und hochgekrempelten Manschetten. Ich erkannte den herben und sinnlichen Vetiver-Duft wieder, mit dem er sich besprüht hatte. Er stellte die Teetasse auf den Boden, ging zum Fenster, das ich die
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