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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simonetta Greggio
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beim letzten Mal aufgehört hatten. Ohne Befangenheit, ohne Beklemmung, die Wörter strömten nur so dahin, die ewig gleichen Anspielungen, die vertrauten Scherze, von ihrem Lachen begleitet, ein helles Lachen, das immer höher ging, bis es plötzlich abbrach. Gios Abenteuer nahm sie offenbar leicht, bezeichnete es als Flause, als Jugendstreich, als notwendigen Akt der
Rebellion, wie sie sagte. Raphaël hatte das viel mehr überrascht, übrigens auch verletzt, weil er glaubte, zu seinem Sohn ein enges Verhältnis zu haben, und darunter litt, dass er sich ihm nicht anvertraut hatte. Sie dankte mir für die Gastfreundschaft und dafür, dass ich ihm erlaubt hatte, auch die Sommerferien hier zu verbringen. Gios Flunkerei verschlug mir die Sprache, aber ich verriet Micol nichts und erklärte mich mit allem einverstanden.

D ie Nacht dehnt sich aus, als wollte sie gar nicht mehr enden. Das Dielenholz in meinem Zimmer atmet unter meinen Schritten. Um diese Uhrzeit ähnelt der Himmel den Augen eines Neugeborenen, bevor man die Farbe der Iris feststellen kann. Es ist noch nicht Zeit, die Fensterläden zu öffnen.
     
    Als ich dreizehn war, bin ich mit Mama in die Berge gefahren. Die Pension mit den Holzbalkonen voller Geranien und den Läden, die von großen Herzen durchbrochen waren, gehörte für mich Schneewittchen. Dort aß man seltsame Dinge, Omeletts mit Konfitüre, Brot- und Wildkräutersuppen, Johannisbeerkuchen. Unser Zimmer ging auf die Berge. Jeden Tag spielte Mama ihre Tonleitern auf dem dumpfen Pensions-Yamaha und weinte ihrem Magne nach, obwohl sie sonst kein gutes Haar an ihrem Klavier ließ. Abends im Bett, wenn sie dachte, ich sei schon eingeschlafen, streichelte sie mir den Kopf. Ich las zum x-ten Mal Das Alaska-Mädchen und Ruf der Wildnis , damals meine Lieblingsbücher.

    Eines Morgens brachen wir früh auf, um zum Gletscher zu wandern. Der Himmel war noch dunkel, der Tag versprach klar und wolkenlos zu werden. Wir hatten nicht viel dabei, nur einen kleinen Rucksack mit zwei Pullis, zwei Äpfeln, etwas Käse und stark gesüßtem Kaffee, mit einem Tropfen Tresterbrand versetzt. Wasser brauchten wir nicht, weil unser Wanderweg zu drei Vierteln von Bächen durchzogen war. Nur das letzte Stück war sehr rau, karg und steil. Zügig stiegen wir zum Gletscher hinauf, legten zwischendurch eine Vesperpause ein und machten uns rasch wieder auf den Weg, weil der Himmel sich rasend schnell zuzog, auch wenn es nicht kalt war. Mama lachte mich aus, weil ich ihr nur mit Mühe folgen konnte, ihr gleichmäßiger Schritt hätte einem Gebirgler alle Ehre gemacht. Die Kiefern und Moosgewächse waren nackten Felsen und Moossteinbrech mit winzigen leuchtenden Blüten gewichen. Als wir ganz oben waren, nahmen wir den Kamm in Angriff, einen schmalen Kiesgrat zwischen zwei Abgründen, von denen einer aus runden rutschigen Steinen bestand und der andere, unendlich schöner und gefährlicher, mit einem Kinderfederbett aus schaumigem Schnee bedeckt war. Sie bat mich, nicht nach unten zu sehen. Etwa eine halbe Gehstunde vom Gletscher entfernt formten die Wolken über uns eine dichte Masse. Schlagartig wurde die Luft eiskalt. Wir holten die Pullis aus dem Rucksack und liefen weiter. Wir hatten nicht die geringste Lust, wieder hinabzusteigen, ohne den Gletscher gesehen zu haben, so kurz vor dem Ziel wollten wir auf keinen Fall aufgeben. Die
Wolken waren jedoch so nah, so bedrohlich, so mit Elektrizität aufgeladen, dass ich kaum atmen konnte, aber ich sagte nichts. Mama lief vor mir her und schien nur eines im Kopf zu haben, nämlich möglichst bald anzukommen.
    Dann brach es plötzlich aus allen Wolken heraus. Binnen Sekunden waren wir nass bis auf die Knochen, als hätte sich das Gewölbe über uns entzweigespalten. Mama blieb stehen. Ihre Augen hatten die Farbe gewechselt. So hatte ich sie noch nie gesehen. Wie verhext starrte sie auf den Pfad, fixierte die Kiesel, die uns, vom Regen fortgespült, unter den Füßen wegrollten. Der Weg hatte sich zum Sturzbach gewandelt. Sie gab mir ein Zeichen, ihn zu verlassen, und zwar sofort. Schweigend rannten wir so schnell es ging über die regennassen Wiesen nach unten. Von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, die Kleider klatschnass, die Schuhe haltlos, weil der Boden unter ihnen wegbrach, stürzten wir den ganzen Weg wieder hinunter, ohne noch ein einziges Mal zu verschnaufen. Das Schlimmste sollte aber noch kommen.
    Auf einmal schlugen um uns herum lauter Blitze ein. Als würden wir

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