Mit Nackten Haenden
sah, wie Raphaëls Gesichtsausdruck sich veränderte, er rückte von mir ab, nahm sein Glas und stand auf. Meine Ohren begannen zu dröhnen, und das Geräusch, das ich hörte, erinnerte an einen Dolch, der ein Stück Seide entzweireißt.
Ich möchte dieses alte Foto wiederfinden, das Raphaël damals in den Sommerferien gemacht hat. Abends, wenn der Strand wieder verwaist war, streckten wir uns im warmen Sand aus und erzählten uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten. Er konnte mir stundenlang seine Träume schildern. Und ich konnte ihm stundenlang zuhören. Ein Mitternachtsbad, noch mehr Küsse, das blütenfrische Bett, das uns erwartete. Wenn ich vor Lust schreien wollte, hielt er mir die Hand vor den Mund und beugte sich zu mir, bat mich inständig, mich zu beruhigen, als würde ich leiden, wiegte mich in seinen Armen, damit ich wieder zu Atem kam. Erst dann, wenn meine Nerven sich entspannt hatten, küsste er mich von Neuem, grausam und zärtlich, leidenschaftlich und ernst. Ohne diese Kunstfertigkeit hätte ich ihm vielleicht verziehen, dass er mich verließ. Ohne dieses Talent wäre mir das Vergessen leichter gefallen.
Ich weiß nicht, ob ich das Foto noch irgendwo habe oder ob es im Lauf meiner Umzüge abhanden gekommen ist, ob es tief in einem Karton steckt oder zwischen Buchseiten, ob es eines Tages wieder auftauchen wird, aber ich möchte es hier und jetzt sehen und für einen Augenblick wieder in die Haut dieser jungen Frau schlüpfen, in dieses glatte, straff sitzende Gewand, das sie umhüllte, und einmal mehr diesen blinden Mut spüren, diese Unberührtheit von allem Übel. Eine Mischung aus Furchtlosigkeit, Frechheit und Zuversicht. Ich sollte dieser jungen Frau erklären, dass man die Liebe festhalten muss, wenn man sie einmal gefunden hat, dass man den Geliebten beschützen muss, vor sich selbst und vor anderen. Dass Männer feige, anfällig und dämlich sind. Dass sie der Stärkeren folgen und dass ihre Schwäche und ihre Eitelkeit sie daran hindern, zurückzukehren, selbst wenn sie sich geirrt haben.
Vor allem ihre Augen würde ich gern wiedersehen. Diesen intensiven Blick. Diese lodernde Hitze, wie bei einem Streichholz, das in einem schwarzen Glas verbrennt.
D as Zimmer ist nach wie vor in Dunkelheit getaucht, der Geist eines Katers kratzt an der Tür, damit ich ihn einlasse, und als ich sie öffne, kommt er tatsächlich herein und springt schnurrend aufs Bett. Ich habe wieder Lust auf eine Zigarette, aber meine Schachtel ist leer. Ich müsste runtergehen, um eine neue zu holen, frischen Kaffee aufzusetzen, einen Eiswürfel in meinen lau gewordenen Whisky zu tun, aber ich bleibe hier sitzen, im Sessel neben dem Bett, kuschle mich in die Decke und rufe mir all das wieder in Erinnerung, in dieser endlosen Nacht.
Am Morgen nach Gios Rückkehr hatten wir gar nicht die Zeit, uns auszusprechen oder irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Ein Notruf holte uns im Morgengrauen aus dem Bett. Der zuständige Tierarzt eines etwa fünfzig Kilometer entfernten Gestüts hatte Urlaub. Binnen zehn Minuten waren wir unterwegs, mit einer Thermoskanne Kaffee zwischen den Sitzen und einer Orange in der Hand. Beim Schalten biss ich in die Frucht, der Saft tropfte hinunter, das Lenkrad war schon
ganz klebrig, aber das war eine Art Ritual, Kaffee und Orange während der Fahrt bei Tagesanbruch, bis der erste Sonnenstrahl durch die Windschutzscheibe drang und der Nebel über den Feldern sich endlich lichtete.
Gio schwieg, aber es war ein gelassenes Schweigen, das keinerlei Fragen aufwarf. Als sei das Wesentliche schon geregelt und alles andere unerheblich. Ich war aus diesen vier Tagen Schonzeit gestärkt hervorgegangen. Und das andere konnte in der Tat warten.
Ich schmeichle mir, eine gute Tierärztin zu sein. Mitfühlend und durchsetzungsfähig, vorsichtig, ohne übertriebene Ängstlichkeit an den Tag zu legen. Doch obwohl ich Stiere mit verwegenem Gleichmut behandle, fühle ich mich beim kleinsten Pony schon unbeholfen und überfordert. Ich halte Pferde für unberechenbar. Das spüren sie auch sofort und spielen diese Angst gegen mich aus. Einmal hat mich ein Hengst in seiner Box in die Ecke gedrängt und mir mit dem Kopf einen solchen Stoß versetzt, dass ich zu Boden ging. Dass man Sternchen sieht, ist alles andere als ein Klischee. Danach neigte er, als ob nichts geschehen wäre, den Kopf zu mir herab. Die spitzen Ohren zuckten, die Haut pulsierte, die Augen glänzten wie Wasser am Grund eines
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