Mit Nackten Haenden
bombardiert. Mama kam auf mich zu und nahm meine Hand. Wir rannten noch schneller und erreichten schließlich eine Art Stall, der mit trockenem Heu gefüllt war. Dort befahl sie mir, mich auszuziehen, und rieb mich mit dem Stroh ab. Danach rubbelte sie sich ebenfalls Arme und Beine trocken, wir zogen uns wieder an und warteten das Ende des Gewitters ab. Dabei reichten wir uns gegenseitig den Kaffeebecher.
Der Alkohol und der Zucker taten uns gut. Ich war trunken vom Rennen und vom Trester, Mama hatte einen merkwürdigen Zug um den Mund. Ich fragte sie, warum sie dort oben meine Hand genommen hatte, da wir beide so oder so unaufhörlich stolperten und hinfielen.
Sie antwortete: »Wenn der Blitz dich getroffen hätte, wäre ich auf diese Weise mit dir gestorben.«
Sechs Jahre dauerte der Abstieg in die Hölle, Hand in Hand, Stufe um Stufe einer endlosen Treppe. Sechs Jahre, in denen ich mich jeden Augenblick schuldig fühlte, den ich nicht bei ihr verbrachte, sechs Jahre, in denen sie völlig abmagerte, sich ihrer fleischlichen Hülle entäußerte, als wollte sie nichts als eine Handvoll Knochen hinterlassen.
Mamas schöne Hände. Ihre liebevollen, hellsichtigen Augen, ihre gewölbten Füße, ihre Anmut, ihre Koseworte, ihr Streicheln auf meinen Haaren, ihre Art, lautlos meine Zimmertür zu öffnen, um die Kaffeetasse neben das Bett zu stellen, ihr Schweigen, das aussagekräftiger war als viele Worte, die tugendhafte Liebe, die sie meinem Vater entgegenbrachte, ihre Aprikosenhaut, ihr sauberer Duft, ihre Altstimme, all das, was zusammen mit ihrem Gedächtnis verflog. Die asketische Schönheit ihrer Existenz, die strenge Disziplin ihrer Lebensführung, und ihre Stunden temperierten Klavierspiels und ihre Leidenschaft für das Barock, ihr herrlicher Tastenanschlag, Talkumpuder und Farnkraut, schwarze Sonne, perlendes grünes Wasser.
Ich erinnere mich an die Kassette, die sie aufgenommen hatte, um sie mir am Abend meines sechzehnten Geburtstags zu schenken, Bachs Italienisches Konzert , das sie mit geschlossenen Augen spielte, und ich sehe sie wieder vor mir, ihre Hände fliegen über die Tastatur, goldene Libellen, die in der Sonne tanzen, sie neigt den Kopf, ihre Lippen öffnen sich leicht dem Hauch des Fremden. Die Flut heller Noten, Sinnlichkeit und Melancholie, Werden und Vergehen, Sehnsucht und Hoffnung, hier und da auch Freude, ein klarsichtiges Glück ertönen nach und nach unter ihren Fingern. Sie war eins dieser Wesen, die sich nur einmal hingeben, die ihr Wort für immer halten, eine Madame de Tourvel, eine von diesen Frauen, die lieber den Tod in Kauf nehmen statt zu kapitulieren. Eine aufrechte, querköpfige, halsstarrige Frau.
Ich habe mich oft gefragt, woher sie ihre Lebensweisheit schöpfte, auch die Gelassenheit und diese Fähigkeit, stets vernünftige Entscheidungen zu treffen, ohne es sich je anders zu überlegen, ohne irgendetwas zu bereuen.
Ich glaube, das Gesetz der Menschen ist alles andere als vollkommen, aber nicht so ungerecht wie das, dem wir alle unterworfen sind, einem viel unverständlicheren und willkürlicheren Gesetz. Ich würde gern von mir behaupten, dass ich bei diesem Spiel zwar sehr viel verloren, doch auch sehr viel gewonnen habe, aber das trifft nicht zu. Tauschgeschäfte sind ausgeschlossen, man kann das Schicksal oder den lieben Gott nicht erpressen.
Wann fängt man an zu sterben? Meine Mutter lebte von der Musik und durch die Musik. Eines Tages hat sie die Finger auf die Tastatur gelegt, ohne zu spielen, stille Tränen fielen auf die Tasten, sie wirkte verloren. Dann hat sie den Kopf gehoben und mich angesehen. Ihr Blick war klar, strahlend wie seit Langem nicht mehr. Sie hat mich zu sich gerufen. Ich ging in die Hocke, um ihrem Gesicht ganz nah zu sein. Sie hat meine Hände genommen und mich gebeten, sie anzuhören, ohne Unterbrechung, bis zum Schluss.
Oft nehmen wir uns als Jugendliche dieses Eine vor; beim ersten Zeichen des Verfalls zu sterben, erscheint uns so leicht, so folgerichtig, dass wir die erste Jugend eilig durchleben, ohne Angst und ohne Aufregung.
Aber dieses schicksalhafte Zeichen rückt immer ferner. Das erste weiße Haar reißen wir aus. Die ersten Schmerzen an der Schulter, die sich monatelang bemerkbar machen, schreiben wir noch einer alten Verletzung zu. Wer weiß, wo das Leben noch eine Nische findet, wenn man sagt, dass man nicht mehr kann? Wer hat das Recht, zu entscheiden? Und wann?
Heutzutage gibt es in Holland und Belgien Schachteln
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