Mit Nackten Haenden
geröteten Wangenknochen, seine glänzenden stieren Augen. Ich sah mich so, wie er mich sehen musste, die Brustwarzen unter meiner anliegenden Bluse, die gekreuzten Hände vor meinem triefenden Höschen. Er zog es mir nicht aus, küsste mich von Neuem, dann packte er meine Handgelenke und legte meine Finger auf seinen Penis. Er streichelte sich mit meinen Händen, als führten sie ein Eigenleben. Wieder schloss ich die Augen, als er mich zur Wand drehte, meinen Baumwollslip zurückschob und in mich eindrang. Die Kacheln an meiner Wange waren kühl. Es dauerte so lang, dass meine Knie nachgaben. Er ließ sich neben mich nieder, und als ich auf ihm saß, hob ich den Kopf und sah Milliarden weißer Sterne, die vom Himmel fielen und mich in Bann schlugen, dann schloss ich ein weiteres Mal die Augen, und es war vorbei.
Am nächsten Tag rief Papa an, um mir mitzuteilen, dass Mama ausgerutscht war. Sie hatte sich am Kopf verletzt. Er beichtete mir auch, dass sie in den letzten Monaten öfter in Ohnmacht gefallen war.
Damit geriet alles ins Wanken. Meine kleine Welt fing an, sich aufzulösen, bröckelte erst in Zeitlupe dahin, dann immer schneller und riss beim Einsturz all meine Wünsche und Gewissheiten mit.
Das unbewusste Gedächtnis ist viel zählebiger als das bewusste, das auf einen Streich gelöscht werden kann, während das andere fast bis zum Schluss vorhält und es einem beispielsweise ermöglicht, sich an die Bewegungen zu erinnern, die man zum Radfahren braucht, sogar wenn alles andere, bis hin zum eigenen Namen, für immer verloren ist. Selbst wenn die Finger noch wissen, wie man eine Bluse auf- und zuknöpft, bleibt, wenn das Bewusstsein weicht, von einer alten Angst nur noch der Schrecken, vom Seelenschmerz nur die Tränen, deren Ursache vergessen ist. Von der Kindheit nur eine Sehnsucht, die dazu führen kann, dass man sich fünfzig Jahre später auf den Bürgersteig setzt. Vom Verlust nur die nackte Haut.
Wochenlang hatte Mama ständig über Erschöpfung und Gleichgewichtsstörungen geklagt. Sie sagte, sie habe den Eindruck, sich bei schlimmstem Sturm auf einem Boot zu befinden. Sie hatte merkwürdige Gerüche in der Nase, faule Eier, weiße Blüten, Bleichwasser und verbranntes Holz. Wir suchten nach der Ursache.
Sie spielte ohne Unterlass, Liszt und Mozart, Satie und Bach. Eines Morgens dann zog sie nach dem Aufstehen ein schwarzes Paillettenkleid an. Sie spielte sich die Finger wund und erhob sich nach jedem Stück von ihrem Hocker, um sich zu verbeugen. Papa ließ sich beurlauben. Ich fand einen Job als Aushilfe in einer
Cafeteria und arbeitete an vier Abenden pro Woche in einer Bar.
Später in diesem Jahr rief mich Papa wieder an, an einem Novembermorgen. Mama war unauffindbar. Achtundvierzig Stunden suchten wir nach ihr. Man brachte sie uns schließlich im Nachthemd zurück vom Friedhof Père Lachaise, wo sie unter Chopins Statue eingeschlafen war. Wir stellten eine Krankenschwester ein, um auf sie aufzupassen, was gar nicht nötig war, weil Mama sich schon bei Morgenanbruch ans Klavier setzte und den ganzen Tag ohne zu spielen dort sitzen blieb, mit gesenktem Kopf und schlenkernden Armen.
Am 31. Dezember besuchte ich sie, bevor ich mit Raphaël zu einer Silvesterparty ging. Ich atmete ihren wunderbaren Duft nach Maiglöckchenseife und Handcreme ein. Ihre schönen aschblonden Haare waren zu einem Zopf geflochten und hochgesteckt, aber der Scheitel war auf der falschen Seite. Ich löste ihren Zopf und frisierte sie neu. Papa saß am Kamin und las Zeitung. Die letzten Tage seien passabel gewesen, vertraute er mir an. Die Behandlung schien anzuschlagen, Mama vertrug die neuen Medikamente so gut, dass sie wieder lächelte und manchmal sogar lachte. Ihr Lachen zählte zu den Dingen, die uns seit Beginn ihrer Krankheit am meisten gefehlt hatten, uns beiden. Wir wollten nur zu gern daran glauben, aber unsere Blicke wichen einander aus.
Im Taxi umfasste Raphaël mein Gesicht mit beiden Händen und flüsterte: »Ich bin verrückt nach dir.« Mir war das unangenehm, wegen des Taxifahrers, auch wenn er sich auf den Stau zu konzentrieren schien.
Später, als er mir auf dem Fest gerade einen Songtext ins Ohr trällerte, verharrte eine junge Frau regungslos auf der Schwelle, den Mantel noch in der Hand, und ließ den Blick einmal langsam im Raum umherkreisen. Etwa ein Dutzend Gäste tanzten, ein Paar küsste sich. Die Leute lachten, ein Champagnerglas in der Hand. Ihr Blick blieb an ihm haften. Ich
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